Ethnische Politik und Nationalismus in Ex-Jugoslawien
Ein Plädoyer für individuelle Kulturrechte

01.06.2000

Jugoslawien war kein Völkerkerker oder ethnisches Pulverfaß
Gefährlicher Föderalismus nach ethnischen Kriterien

Jugoslawien war kein Völkerkerker oder ethnisches Pulverfaß

Was seit 1991 in Jugoslawien passiert ist, ist ein grausamer Ausbruch von Gewalt aufgrund eines ungezügelten Nationalismus.

Viele sprechen von einem vorprogrammierten Konflikt in einem aus vielen völlig unterschiedlichen Völkern bestehenden Land. Es wird in dieser Hinsicht gesagt, daß das was nicht zusammengehört nicht zusammenleben kann und ein multi-ethnischer Staat somit der Gefahr ausgesetzt ist, von innen gesprengt zu werden. Das Recht jeden Volkes auf politische Selbstbestimmung ist für den Westen immer noch das Leitbild für seine Balkanpolitik und damit wird dem Nationalismus der Respekt gezollt, den es beansprucht, nämlich eine politische Komponente zu sein.

Daß der Nationalismus tobt ist eine Realität; daß der Nationalismus in einem Land wie Jugoslawien eine Selbstverständlichkeit ist, ist (aus meiner Sicht) eine voreilige Konklusion. Ende der 80er Jahre wurden dem System in Jugoslawien von Forschern sehr gute Chancen für die Zukunft eingeräumt, und trotz aller westlicher Skepsis gegenüber kommunistischen Systemen, wurde ihre Bewältigung des Nationalismus auch im Westen gelobt. Schließlich sei auch angemerkt, daß nach westlichen Kriterien Jugoslawien national relativ homogen war. Sprache ist für den Westen das Hauptkriterium für der Definition von Volk. In Jugoslawien sprachen 72% Serbokroatisch, 14% Slowenisch oder Makedonisch, zwei slawische Sprachen die sehr eng verwandt sind mit Serbokroatisch, grenzend an das dialekthafte. Nur die Albaner waren mit 8% echte sprachliche Fremdkörper in Jugoslawien, und die restlichen 6% verteilten sich auf 11 kleine oder Kleinstgruppen, die keine bedeutende politische Position gegenüber der sprachlichen Mehrheit einnehmen konnten. Angemerkt werden muß, daß der wahrscheinlich schwerste Konflikt in Bosnien zwischen drei sprachlich völlig homogenen Gruppen ausgetragen wurde.

Letztlich ist auch Religion ein westliches Kriterium für Nationalidentität, das für Bosnien prinzipiell immer angeführt wurde. Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß der Sozialismus Jugoslawiens die Rolle der Religion wirkungsvoll bekämpfte. Die Säkularisierung ist wohl weiter vorangetragen worden in Jugoslawien als hier in Westen, sowohl gesellschaftlich als auch mental. Religion bleibt nur ein objektives Kriterium ohne viel Inhalt für Jugoslawien, so wie hier im Westen. Religionszugehörigkeit ist zumindest ein objektives Kriterium zur Kennzeichnung der Konfliktgruppen in Bosnien gewesen, aber in der Sandschak zwischen Serbien und Montenegro, grenzend an Bosnien, blieb die große, mehrheitlich muslimische Bevölkerung völlig unberührt von jeglicher national-mobilisierung basierend auf ihrem religiösen Unterscheidung von den sie umgebenden Serben.

Die Forschung hat deshalb auch ganz andere nationalistische Muster auf dem Balkan und besonders in Jugoslawien erkannt, als in Westeuropa. Es herrscht dort ein nationaler Mythos, entstanden auf der Grundlage von Folkloristik aber vorallem auf Grundlage von Geschichte, geschrieben, selektiert und interpretiert von geistig ausgehungerten Intellektuellen wie Vuk Draskovic, und instrumentalisiert von Politikern. Dieser Schreibtischnationalismus erlebte einen beispielslosen und zeitlich geballten Durchbruch 1990, als Jugoslawien eine doppelte Verfassungskrise, gekoppelt an eine lang anhaltende Wirtschaftskrise, durchlief. Die Verfassungskrise war sowohl eine Krise im föderalen Staatsaufbau, als auch eine Transformation vom Kommunismus zur Demokratie. Vor den Wahlen 1990 war in der Bevölkerung kein Verständnis für eine nationalistische Politik zu finden: 74 % der Wähler sprachen sich nur einige Monate vor den ersten Wahlen im November 1990 in einer Meinungsumfrage gegen die ethnischen und nationalistischen Parteien aus und waren der Ansicht, daß sie nicht einmal zu den Wahlen zugelassen werden sollten. Die Wähler gaben aber den nationalistischen Parteien eine deutliche Mehrheit. Es war also in relativ kurzer Zeit der breiten Koalition von ausgehungerten Intellektuellen über unzufriedene oder ehrgeizige kommunistische Parteimitglieder hin zur politischen Elite der einzelnen Länder äußerst erfolgreich gelungen, der Bevölkerung einen nationalen politischen Diskurs aus eigenen Machtinteressen heraus aufzuzwingen.

2. Gefährlicher Föderalismus nach ethnischen Kriterien

1990 war das Krisenjahr Jugoslawiens und die Verfassungskrise drängt sich als Erklärungsfaktor für die weitere Eskalation auf, zumal der nationale Konflikt nicht naturgegeben war. Von einigen Forschern ist der Transformationsprozeß vom Kommunismus zur Demokratie die Ursache für das Aufkommen des Nationalismus und es wird in diesem Zusammenhang von Nationalismus als Ersatzideologie zum Kommunismus gesprochen. Es kann zwar nicht abgestritten werden, daß überall in den postkommunistischen Ländern der Nationalismus sein häßliches Gesicht hervorstreckte, aber es eskalierte sonst nur in Jugoslawien, woanders ist der nationalistische Diskurs kein Leitthema gewesen, sondern durchweg dem pluralistischen demokratischen System zuzuordnen.

Die föderale Krise ist als Erklärungsfaktor viel aussagekräftiger. Als einzigstes kommunistische, föderal aufgebautes Land außer Jugoslawien ist auch die Sowjetunion in einer Staatskrise zusammengebrochen, was die Konklusion erlaubt, daß sozialistische Föderationen sich als nicht lebensfähig erwiesen haben. Die Ursache für die friedliche Sezession in der USSR liegt meines Erachtens darin begründet, daß Rußland als Zentralgebilde der Föderation zuerst ausscherte, während im Fall Jugoslawiens Serben als Zentralgebilde sich mehr oder weniger mit der Föderation identifizierten und als Rumpfjugoslawien auf die Sezession reagierten.

Die föderale Struktur Jugoslawiens war eine Tito-Produkt, gebaut auf die ungünstigen Erfahrungen mit dem zentralistischen jugoslawischen Königreich (1919-1940), getragen von dem kommunistischen Bestreben, der ethnischen Komponente Rechnung zu tragen, ohne Nationalismus aufkommen zu lassen, und konstruiert für den Machterhalt Titos und der Partei durch das Prinzip "Teile und Herrsche".

Tito organisierte nach 1945 Jugoslawien so, daß jedes "Ethnie" ihre eigene "Heim-Republik" erhielt. Die Slowenen hatten Slowenien, Die Kroaten hatten Kroatien, die Serben Serbien, aber Tito schuf neue "Ethnien", wie die muslimischen Serbokroaten, die Bosnien -Herzogowina, und die Makedonier die Makedonien und die Montegriner (unterscheidet sich nur durch Dialekt und Geschichte von den Serben) die Montenegro zugewiesen wurden. Hinzu kommt, daß Tito zwei autonome Regionen Kosovo für die Albaner und Vojvodonien als multiethnische Region etablierte. Die Gebilde Makedonien, Montenegro, Kosovo und Vojvodonien waren Instrumente, um die Dominanz Serbiens zu begrenzen. Die Heim-Republiken waren aber (abgesehen von Slovenien) bei weitem nicht ethnisch homogen und von allen Ethnien befanden sich sehr viele Menschen außerhalb ihrer Heim-Republiken. Die Länder oder Heim-Republiken waren auch vielmehr historische Gebilde.

Trotz dieses Föderalismus wurde Jugoslawien zentralistisch durch Tito und die Kommunistische Parteiliga für Jugoslawien kontrolliert. In Wirklichkeit bestand die kommunistische Partei, und somit die politische Elite aus acht getrennten Divisionen, nämlich den 6 Parteidivisionen der einzelnen Bundesrepubliken, der Bundespartei und der Führung der Jugoslawischen Armee, die als Karrierebasis integrierend wirkte, aber die kommunistische Parteiliga und die politische Elite trennte. Solange Tito als Paterfamilias der Partei die Fäden in der Hand hielt, funktionierte das politische System als Einheit, aber schon nach 1974 desintegrierte sich die Partei, parallel zu Titos gesundheitlicher Schwäche. Als 1971 mit dem sogenannten "kroatischen Frühling", eine Mischung aus demokratischer Bewegung und dem Wunsch die ökonomischen Früchte der kroatischen Ökonomie für sich behalten zu wollen (ausländische Devisen durch den Adria-Tourismus), stärkere unabhängige Forderungen laut wurden, griff Tito radikal durch. Er räumte in der kommunistischen Partei ab, wobei machthungrige und opportunistische Kader an die Führungsspitzen kamen (z.B. Milosevic), und er bereitete eine zentralistische Verfassungsreform vor. Aufgrund seiner Krankheit fiel die Verfassungsreform jedoch ganz anders aus: Die neue Verfassung von 1974 schrieb einen Status quo fest, der in vielem die Grenze zum Konföderalismus bereits überschritt. Die Kompetenzen des Bundes blieben auf Außen- und Verteidigungspolitik sowie gewisse wirtschaftspolitische Richtlinienkompetenzen beschränkt.

Aus Tito-Jugoslawien entstand kein gemeinsamer jugoslawischer Nationalismus, obwohl Tito dies anstrebte, um das Land zusammenzubinden, aber es gab andererseits auch keinen Nationalismus der heutigen "Völker" in ex-Jugoslawien, die der Staat divergierte, bis nach der föderale Verfassung von 1974.

Von da an trieb aber der regionale Egoismus und der Machthunger der Länderpolitiker die es von Anfang an durch den föderalen Aufbau Jugoslawiens gegeben hatte, ungezügelt der Desintegration weiter. Slowenien und Kroatien steuerten zielbewußt die Unabhängigkeit an, während Serbiens Lösungsversuch weg von föderalen Diktaten eine besondere Prägung hatte. Nach Slobodan Milosevics Schwellenerlebnis mit aufgebrachten Serben im Kosovo 1987, und der Entdeckung des Nationalismus als mobilisierendem Element, und nach seiner absoluten Führungsposition in der serbischen Kommunistenpartei im selben Jahr, definierte Milosevic seine politischen Ziele folgendermaßen: Entweder sollte Serbien die Position als erste unter gleichen in Jugoslawien einnehmen, womit er im Bereich der Position des Bundespräsident kam, oder Serbien sollte ein Großserbien werden, wenn die Föderation auseinanderbrechen würde. Für beide Ziele war ihm das Ausscheiden von Slowenien ganz recht, - die Krise sicherte ihm die Kontrolle über die Jugoslawische Armee und der größte Gegner serbischer Hegemonie scherte aus. Somit waren auch Milosevic und die serbische Führung Sezessionisten.

Die Sezession in Slowenien und Kroatien wurde mit den ersten Wahlen 1990 eingeläutet. Es war im Prinzip keine neuen politische Elite die zur Wahl schritt, sondern dieselbe sezessionistische Elite, die ihr Streben nach souveräner Macht moralisch und politisch legitimierten mit Demokratie und Nationalismus. Sie bezogen sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker unter Hinweis auf die föderale Konstruktion Jugoslawiens mit den ethnische Heim-Ländern, wo jedes Land eine entsprechende ethnische Zuordnung erhielt, und erklärten sich beide am 25. Juni 1991 für unabhängig und souverän. Daß aber Kroatien bei weitem nicht nur ein Land der Kroaten war, spielte für die politische Rethorik und leider auch für die internationale diplomatische Logik keine Rolle.

Die kroatische Sezession führte unausweichlich die innerkroatische Sezession der Serben mit sich, deren blutiger Ausgang mit der Vertreibung aller Serben aus der Krajina traurig bekannt ist.

In Bosnien-Herzegowina schien die Lage der politischen Elite der dortigen Jugoslawischen Teilrepublik gefährdet und serbischen Hegemonialansprüchen ausgesetzt, nach dem Ausscheren von Slowenien und Kroatien aus Jugoslawien. Die Politik nationalisierte sich und die muslimisch dominierte Regierung hielt in Koalition mit den Kroaten im Januar 1992 ein Unabhängigkeitsreferendum ab, womit ein Bürgerkrieg zwischen der bosnischen "Regierung" und den Serben in Bosnien ausbrach. Wie im Fall Kroatien führten die Sezession und die Nationalisierung einer muslimisch dominierte und definierte Republik nur eine entsprechende Gegenreaktion aus ethnisch fremden Elementen der Republik mit sich, und diese Politisierung einer Bevölkerungsgruppe brachte unweigerlich ein gleiches sezessionistisches Streben mit sich. Der Westen versuchte mit dem Vance-Owen-Plan zwar die ethnischen Strategien auszuhebeln und aufs neue die Grundlage für eine Zivilregierung zu schaffen, durch eine Kantonisierung Bosniens in zehn Provinzen. Die Mehrheit hätten in vier Provinzen Muslime gestellt, in drei Serben und in zweien Kroaten; die zehnte Provinz wäre vorwiegend kroatisch/muslimisch gewesen. Keine Provinz sollte jedoch ethnisch homogen sein.

Der Vance-Owen-Plan wirkte sich aber offenkundig nationalmobilisierend auf die Kroaten in Bosnien aus: Sie wurden ethnisch definiert und vorallem wurden sie territorial und politisch definiert durch der Zuweisung von zwei politischen Gebilden.

Ich habe hier versucht den Weg hin zum Nationalismus und zur Sezession auf dem Balkan historisch als eine nicht vom Volk getragene, sondern vielmehr von Politikern getragene Entwicklung darzustellen. Es hat sich hier gezeigt, daß Nationalismus und politischer Regionalismus wie im Föderalismus der jugoslawische Bundesrepublik Hand in Hand gehen. Subordinäre Systeme versuchen hier, getragen von der politische Elite, aus ihrer Einbindung auszubrechen. Dieser Prozeß wird legitimiert durch das Selbstbestimmungsrecht der besonderen "Ethnie" des jeweiligen Subsystems, womit Nationalismus entfacht wird. Sobald ein subordinäres politisches System als Rahmenbedingung für eine "Ethnie" geboren wird, sind eine Sezession und eine Nationalisierung so gut wie eingeleitet. Der Vance-Owen-Plan war somit ungewollt Geburtshelfer einer weiteren Nationalisierung, durch die Politisierung von Kroaten in Bosnien.

Der Bürgerkrieg brach 1993 dann auch zwischen Kroaten und Muslimen aus, und der Owen-Stoltenberg-Plan mußte die politische Trennung der drei "Völker" Bosniens in Rechnung ziehen und versuchte nur eine "Union dreier Republiken" als Friedensbasis durchzusetzen. Die Dayton-Vereinbarung setzte dieses Prinzip dann für einen Frieden um, in einer kroatisch-muslimischen Föderation und serbisch-bosnischer Konföderation.

1993 brach letztlich auch Makedonien aus Restjugoslawien aus. Es kam dort nicht zum Konflikt, hauptsächlich aus dem Grund weil ein Vorgehen Serbiens gegen Makedonien unweigerlich einen Großbalkan-Krieg aufwirbeln würde mit Bulgarien, Griechenland, wahrscheinlich auch Albanien und eventuell der Türkei.

Der fehlende politische Wille Milosevic die Serben in Makedonien zu mobilisieren hat bezeichnenderweise als Ergebnis, daß die Serben dort nicht national mobilisiert sind, sondern im jugoslawischen pränationalen Zustand ruhen.

Als letzte Gruppierung versuchten die Albaner im Kosovo aus Restjugoslawien auszubrechen. Gerade für die Albaner ist ein Ausscheren aus Jugoslawien ethnisch verständlich, zumal sie sich sprachlich als auch religiös wesentlich von den Serben unterscheiden und Kosovo zudem noch an einen albanischen "Mutterstaat" grenzt. Es brachen deshalb gerade im Kosovo schon 1981 die ersten ethnischen Unruhen Jugoslawiens aus. Der Aufstand wurde aber von Truppen abgewürgt und dem Kosovo sein autonomer Status genommen. Daß der Kosovo danach im Prinzip seiner politische Führung beraubt war, erklärt auch meines Erachtens, warum erst so spät der neuerliche Aufstand im Kosovo ausbrach, und das bekräftigt auch die These: Nationalismus definiert sich politisch und wird von politischer Elite definiert.

Deshalb war der Föderalismus in Jugoslawien so fatal und deshalb kann politische Autonomie für Minderheiten auf dem Balkan kein Zukunftsmodell für Minderheitenpolitik sein. Es gibt noch sehr viele ungelöste Minderheitenprobleme auf dem südlichen Balkan, die noch nicht eskaliert sind, weil die Minderheiten dort kein politisches System als Antrieb für Unabhängigkeit und Nationalismus haben. Die Verabschiedung von Minderheitenrechten in allen Ländern des Balkans ist notwendig und unvermeidlich, aber soll das traurige Spiel von Nationalismus und Sezession nicht weitergehen, tut man gut daran keine Gruppenrechte, verbunden mit Autonomie, zu verabschieden, sondern individuelle kulturelle Rechte zu erlassen und den Rückzug des Staates aus dem Geistesleben einzuleiten.