Rudolf Steiner und die Politik

01.07.1997

Rudolf Steiners Verhältnis zur Politik war ein sehr konkretes. Er betrachtete sie nicht als etwas Nebensächliches oder echte geistige Bestrebungen sogar Störendes. Im Gegenteil. Er wollte seinen Zeitgenossen für den wirklichen Charakter und die Hintergründe der politischen Geschehnisse die Augen öffnen. Man braucht nur einen Blick zu werfen in die Zeitgeschichtlichen Betrachtungen aus den Jahren 1916/17 [1], um zu sehen, wie konkret er wurde. In seinem Verhältnis zu politischen Geschehnissen lassen sich ganz grob drei Phasen unterscheiden, die sich zeitlich zum Teil überschneiden.

In einer ersten Phase, die von frühen Aufsätzen in den Blättern Die Woche und Deutsche Wochenschrift [2] bis zu den Zeitgeschichtlichen Betrachtungen reicht, beschränkte Steiner sich auf die Darstellung gewisser Tatsachen, wie zum Beispiel die Hintergründe des Ersten Weltkrieges oder die Charakterisierung verschiedener Volksseelen. Er tat dies vor allem in Vorträgen vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft. In einer zweiten Phase ging er dazu über, nach entsprechenden Fragen bestimmten Persönlichkeiten Ratschläge zu geben. Hierzu gehört alles, was durch die Frage Otto Graf Lerchenfelds im Juli 1917 ausgelöst wurde. Lerchenfeld fragte Rudolf Steiner, wie Deutschland aus der Sackgasse geholfen werden könne, in der es 1917 wie gefangen schien. Als Antwort entwickelte Steiner die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus, die in Memoranden niedergelegt und in der Folge an deutsche wie österreichische Regierungsmitglieder wie Staatssekretär Kühlmann oder Arthur Polzer-Hoditz, den Kabinettschef Kaiser Karls, gelangten. In einer dritten Phase sprach er öffentlich über seine Ideen einer Umgestaltung des gesamten sozialen Lebens, unter anderem zu den Arbeitern der Daimler- oder Bosch-Werke. Ein Vorspiel dieser dritten Phase war Steiners Bereitschaft, im Sommer 1916 in Zürich eine Nachrichtendienststelle einzurichten, um zur Erkenntnis der wirklichen Kriegsursachen und Kriegsvorgänge beizutragen. Auf dem Höhepunkt dieser besonders 1919 auffälligen dritten Phase setzte er sich für die Drucklegung der Aufzeichnungen Helmuth von Moltkes ein, die dazu bestimmt waren, den Gang der Verhandlungen in Versailles zu beeinflussen. Er führte ein fünfstündiges Gespräch mit General von Dommes, der in letzter Minute im Namen der deutschen Regierung verlangte, daß die mit einem Vorwort Steiners versehene Schrift Moltkes (einiger unbedeutender Formfehler halber) zurückgezogen werde, was geschah. Im Oktober 1921 teilte Steiner im Pariser Blatt Le Matin über diese und andere Vorgänge innerhalb der deutschen und internationalen Politik freimütig seine Ansichten mit - und setzte sich damit auch schärfster, meist sehr unsachlicher Kritik aus.

Wenn es in den Statuten der von Steiner 1923 begründeten Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft zwei Jahre später heißt: „Die Politik betrachtet sie [die Gesellschaft] nicht als in ihren Aufgaben liegend“, so ist damit natürlich nicht gemeint, daß nach all den vorausgegangenen Bemühungen Rudolf Steiners, gerade in dieses schwer durchschaubare und für den ersten Blick verworrene Lebensgebiet erkenntnismäßig Licht und Klarheit hineinzutragen, davon in Zukunft plötzlich abgelassen werden solle. Dieser Satz in den Statuten kann im Kontext der hier ganz kurz skizzierten Tätigkeiten und Intentionen Steiners nur bedeuten: Die Anthroposophische Gesellschaft als solche stellt sich nicht in den Dienst irgendeiner Partei oder beginnt, Wahlparolen auszugeben etc. Es kann also mit diesem Statutensatz niemals gegen Versuche argumentiert werden, im Sinne der Geisteswissenschaft Steiners auch die heutigen politischen Ereignisse zu reflektieren und Hintergrundsanalysen vorzulegen. Es kann gewiss nicht gegen den Geist der Zeitgeschichtlichen Betrachtungen verstoßen, sie wenigstens der Richtung nach auch heute fortzusetzen. Wie notwendig ein erkenntnismäßiges Eingehen auf die politischen Realitäten in Wirklichkeit im Sinne der Geisteswissenschaft ist, zeigt folgende Äußerung von Steiner anläßlich eines Studienabends im "Bund für Dreigliederung" in Stuttgart vom 3. März 1920: „Man muß bewegliche Begriffe haben. Das wollen die Leute heute nicht. Sie wollen eingeschachtelte Dinge haben. Sie wollen überhaupt nicht hinausdenken in die Wirklichkeit. Sonst könnten solche Dinge nicht entstehen, daß zum Beispiel die Leute sagen: Anthroposophie gefällt mir ganz gut; aber von der Dreigliederung will ich nichts wissen. Der so spricht, gleicht ungefähr dem, der sagt: Ja, für das Geistige interessiere ich mich; aber dieses Geistige darf nicht in das Politische übergreifen, dieses Geistige muß unabhängig sein von dem Politischen! Ja, dies Unabhängig-Sein, das will ja gerade die Dreigliederung erreichen! Und weil das Geistige nirgends unabhängig ist, so ist das eine Illusion, wenn Sie glauben, sich nur interessieren zu können für bloß Geistiges [...] Das ist ein schönes Interesse für Anthroposophie, das sich nur für Anthroposophie interessieren will.“ [3] Das heißt mit anderen Worten: Solange die Dreigliederung nicht mindestens zum Teil und auf gewissen Erdgebieten Realität ist, „muß“ - selbstverständlich mit aller Freiheit, das Notwendige auch zu unterlassen - ein Interesse für die politischen Angelegenheiten entwickelt werden. Denn in diesen politischen Angelegenheiten, in denen die Elemente des Geisteslebens, des Rechtslebens und des Wirtschaftlebens fortwährend miteinander in unheilvoller Art verknäuelt werden, stecken die Haupthindernisse für die Verwirklichung der Dreigliederung, also auch eines Geisteslebens, das wirklich unabhängig von allen politischen Interessen betrieben werden könnte. [4]

Anmerkungen

[1] GA 173 und 174.

[2] Enthalten in: Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901, GA 31.

[3] Bisher nur abgedruckt in: Landwirtschaft und Industrie - Neuordnung des Bodenrechtes als soziale Forderung der Gegenwart, Wortlaute aus Schriften und Vorträgen von Rudolf Steiner, herausgegeben von Roman Boos, Stuttgart 1957. S. 77.

[4] Daß dies innerhalb der gegenwärtigen Führungsspitze der Anthroposophischen Gesellschaft nicht einmal angestrebt wird, zeigen unter vielem anderen verschiedentliche Pro-EU-Andeutungen von M. Schmidt-Brabant, ebenso seine indirekte Parteinahme für die amerikanische „Nation und ihren Präsidenten“, welche Amnon Reuveni - der in der Wochenschrift Das Goetheanum realistische Analysen der amerikanischen Politik vorlegte - „einseitig diffamiere“, was vielen amerikanischen Mitgliedern nicht gefallen habe: „Vorstandsmitgliedern wurden auf einer Reise durch die USA von den dortigen Mitgliedern bittere Vorwürfe gemacht, wie die doch allen Landesgesellschaften gemeinsame Wochenschrift ihre Nation und ihren Präsidenten einseitig diffamiere.“ (Siehe Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht, Nachrichten für deren Mitglieder, 10. März 1996.) Statt zu fragen, inwiefern Reuvenis Sicht sachlich berechtigt ist, wurde unter Bezugnahme auf den oben erwähnten „Politik-Paragraphen“ der Statuten der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft mit dem subjektiven Mißfallen gewisser amerikanischer Mitglieder argumentiert. Eine solche Art von Parteinahme gehört zu jener „Politik“, die Rudolf Steiner von der Anthroposophischen Gesellschaft ferngehalten wissen wollte.

Veröffentlichung

Der Europäer, 07/1997, S. 3-4, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift