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Offene Stadt Berlin
(In Zusammenarbeit mit Wilfried Jaensch)
Quelle
Zeitschrift „Rundbrief der Bücherei für Geisteswissenschaft und Soziale Frage“
Februar 1987
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Bibliographische Notiz
„Verordneten Fasching“ nennt es die Stadtzeitung „Zitty“: die 750-Jahr-Feier breitet ihre Fangarme über Strukturen und Bewohner der Stadt aus. Und zwar der ganzen Stadt. Denn was Diepgen, „Antes & Co“ [1] recht ist, muss Honecker billig sein. Die provisorischen Machthaber spielen Geschichte, und die Stadt schweigt.
Das hat sie schon vor 50 Jahren getan: 1937, als die Erfinder des Dritten Reiches die 700-Jahr-Feier erfanden. Diese Erfindungen haben einen Zweck. Die Machthaber wollen den Eindruck erwecken: Sie seien die Geschichte Berlins. Der Zweck: die eigene Geschichtsanmaßung bzw.-verlegenheit zu übertünchen.
Wie unsicher müssen die beiden deutschen Staaten sein, wenn sie 750 Jahre benötigen, um sich selbst zu rechtfertigen! Die Unsicherheit ist begründet. Der Grund heißt 1917.
1917 ist das Jahr, in welchem die deutsche Geschichte stehengeblieben ist. 1917 ist das Jahr, das in unserem sozialen Bewusstsein noch gar nicht geboren ist. 1917 ist das Jahr, in welchem etwas geschah, was bis zum heutigen Tag verschwiegen wird. Damals wird die Idee des Macht-Staates begraben. Seit 1917 ist der Macht-Staat keine Wirklichkeit mehr, sondern ein Gespenst. Aber niemand weiß etwas davon. Deshalb hat das Gespenst eine Wirkung: es weckt Angst und erhält eine gespenstische Wirklichkeit. Wie geschah das?
1917 trafen sich zwei Leute in Brest-Litowsk. Einer hieß Kühlmann und war Gesandter des deutschen Kaiserreiches. Der andere hieß Trotzki und war Beauftragter der Sowjetrepublik. Das Thema war: Ende des Krieges. Und zwar grundsätzlich. Für immer. Und weil es nicht die Menschen sind, die Kriege führen, sondern die Staaten, hieß das Thema: Ende des Staates.
Der deutsche Gesandte brachte ein Memorandum mit, welches dem Einheitsstaat ein Ende setzt und Europa in einen Kontinent verwandelt, der nicht von Zentralregierungen beherrscht, sondern von Menschen belebt ist. Menschen sind Wesen, die ihr Leben selber führen, anstatt geführt zu werden. Die drei Punkte des Memorandums hießen:
- Was bisher Staat war, reduziert sich auf die bloße Sicherheit und Rechtsgleichheit der Bewohner.
- Die Kulturen Europas sind autonom und erziehen sich selbst.
- Die Wirtschaften Europas handeln und verhandeln solidarisch mit den übrigen Wirtschaften der Erde.
Völkerbefreiung ist möglich durch Menschenbefreiung. Damit ist der Macht-Staat begraben. Dennoch geht er heute noch um: wie ein Gespenst. Warum? Der deutsche Gesandte hatte Angst. Er hat das Memorandum nicht auf den Tisch gelegt. Trotzki hat es nie gesehen. Keiner kennt es.[2] Stattdessen brachte Kühlmann die uralten Gebietsforderungen - im Namen der Staatsräson.
Die Folgen sind bekannt. Heute ist der deutsche Einheite-5taat nicht nur zertrümmert, sondern sogar geteilt. Es gibt zwei davon. Das Gespenst hat seinen Doppelgänger. Und zwischen Berlin und Berlin steht eine Mauer. Da gibt es zwei Städte, die zufällig denselben Namen tragen, und zufällig an derselben Stelle gebaut wurden, und beide Städte feiern zwei 750-Jahr-Feiern, zufällig in demselben Jahr. Das ist das Gespenst.
Wo ist das Memorandum von 1917? Wo sind die Menschen, die ihr Leben selber führen, anstatt geführt zu werden? Sie sind da, aber sie kommen nicht ans Tageslicht, weil der Macht-Staat jedes Licht verschluckt. Diese Menschen sind ungeboren, sie liegen in der Luft, aber wir können sie nicht sehen. Was wir sehen, sind wiederum nur die Gespenster der Ungeborenen. Diese Gespenster sind die sogenannten Rebellen, die aggressiv um ihre private Freiheit kämpfen. Das sind die Leute, die dem Macht-Staat Widerstand leisten bis zu ihrem Untergang. Denn der Staat hat im Rebellen sein Spiegelbild. Weder Staat noch Rebell sind fähig, gesellschaftliches Leben zu erzeugen. Der Staat zerstört das Leben. Der Rebell zerstört sich selbst. Er wird kaputtgemacht.
Deshalb gehören die Rebellen, ebenso wie die provisorischen Machthaber, zur Geschichte Berlins [3]: Stirner, Mackay, Bettina von Arnim, Bonhoeffer, Liebknecht, Tucholsky, Hille, Rosa Luxemburg, Moses Mendelssohn, Käte Kollwitz, Niemöller, Kantorowicz, Steiner, Havemann, Lassalle, Mühsam, Dutschke, Rahel Varnhagen, Reichpietsch, v. Stauffenberg, Haushofer.
Tote. Ihr Friedhof sind die Büchereien. Ihre Grabsteine sind die Bücher. Ebenso tot ist der Macht-Staat. Sein Friedhof ist die Grenze zwischen beiden Ländern, in denen deutsch gesprochen wird. Sein Grabstein ist die Berliner Mauer.
Was bleibt, ist das Memorandum von 1917.[4] Es blieb bisher ungeboren. Wir sind die Gäste eines Begräbnisses, und wir sind die Zeugen einer Geburt. Die Geburt besteht darin, dass die Trauergäste miteinander ins Gespräch kommen.
Diesem Gespräch dient unsere Bücherei.
Anmerkungen
[1] Siehe Antes & co., Geschichten aus dem Berliner Sumpf, verfasst von Michael Sontheimer und Jochen Vorfelder, Berlin 1986 (Rotbuch-Verlag)
[2] Nur die Historikerin Renate Riemeck hatte die Kühnheit, darauf hinzuweisen: Mitteleuropa - Bilanz eines Jahrhunderts, Frankfurt 1983 (2. Auflage, Fischer Verlag)
[3] Vergleiche Joachim Bergers, Berlin – freiheitlich und rebellisch. Berlin 1986 (Goebel-Verlag Kreuzberg)
[4] Eine Kopie des Memorandums ist gegen Schutzgebühr in der Bücherei erhältlich.
N.S. Ein Konzept der Entstaatlichung Gesamt-Berlins aus dem Jahr 1961 („Offene Stadt Berlin“) legt der EANOS-Verlag Berlin im Frühjahr '87 als Reprint vor.