Vom Grenzverlauf zwischen den Gliedern des sozialen Organismus

Übersicht über die Kontroverse
Vom Grenzverlauf zwischen den Gliedern des sozialen Organismus
zwischen Heinz Kloss, Wilhelm Schmundt, Christof Lindenau und Hartwig Wilken

 

Die nachstehende Studie gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil geht aus von der im herkömmlichen Dreigliederungsschrifttum herrschenden Auffassung von Geistes-, Staats- und Wirtschaftsleben als drei in jeweils gesonderten Institutionen verkörperten Gliedern des Sozialorganismus und sucht unter dieser Voraussetzung beizutragen zur Beantwortung der Frage, wie diese drei institutionellen Groß-Systeme gegeneinander abzugrenzen seien (1.1), zugleich aber auch einander überschneiden (1.2). Im zweiten Teil wird der bisher herrschenden Vorstellung von einer „institutionellen“ Dreigliederung die Lehre Wilhelm Schmundts von einer rein funktionalen Dreigliederung gegenübergestellt, derzufolge die Grenzen zwischen den drei Gliedern quer durch die bisher als Geistes-, Wirtschafts- und Rechtsleben bezeichneten Bereiche hindurch verlaufen.

1. Grenzen und Verschränkungen im institutionell dreigegliederten Sozialorganismus.

1.1 Zur Gliederung und Abgrenzung des institutionellen Geisteslebens.

Rudolf Steiner hat wenig ausgesagt über den konkreten Grenzverlauf — seien es Grenzsäume oder Grenzlinien — zwischen den drei Gliedern oder institutionellen Groß-Systemen des sozialen Organismus, dem staatlich-kommunalen, dem kulturellen und dem wirtschaftlichen. Sein Wirken für die Dreigliederung bestand vornehmlich darin, daß er ihre Grundgedanken in größter Vielseitigkeit darlegte und entfaltete, aber von den konkreten Problemen nur jene aufgriff, die entweder von vordringlicher Wichtigkeit waren oder inbezug auf die ihm von Zuhörern konkrete Fragen gestellt wurden. So hat er vom staatlich-kommunalen Bereich nur den Sektor „Staat“ mit einigen näheren Hinweisen behandelt, da es ihm vordringlich um einen Abbau der Machtpositionen des Staates in Kultur und Wirtschaft ging. Im kulturellen Bereich lag ihm vornehmlich an der Befreiung des Erziehungswesens von der staatlichen Bevormundung; sprach er doch von dem Erziehungs- und Unterrichtswesen als einem Teilbereich, „aus dem ja doch alles geistige Leben herauswächst“ [1], das mithin das Quellgebiet des kulturellen Bereiches darstelle.

Im seitherigen Dreigliederungsschrifttum ist wenig geschehen, um Steiners Wirken in diesen beiden Punkten zu ergänzen. Das Kommunalwesen wurde unbesehen als eine Art Verlängerung des staatlichen Sektors behandelt. Nicht genug gewürdigt wurde, wie viel herrschaftsfreie oder herrschaftsarme Selbstverwaltung es im Kommunalwesen etwa der Schweiz bereits gab und auch bei uns geben könnte (an Ansätzen dazu fehlte es ja auch in Deutschland nicht). Nicht genügend untersucht wurde die Frage, ob nicht im Kommunalwesen neben ordnungspolitischen Verwaltungsfunktionen auch Funktionen wirtschaftlicher Art wesenhaft wirksam seien, obwohl man doch sogar schon bei Steiner entsprechende Hinweise finden kann — z.B. über die Rolle der Landgemeinden im österreichischen Reichsrat [2] —,

[Beiträge, Heft 27, Seite 8]

 

ganz zu schweigen von seinem Vorläufer St. Yves d'Alveydre, der den kommunalen Sektor schlechthin zum Wirtschaftsleben rechnete [3].

Gegenüber der Tradition, die Erörterung der Probleme des Geisteslebens auf Bildung und Forschung zu beschränken, habe ich in dieser Zeitschrift 1962 versucht, zu einem umfassenderen Gesamtbild anzuregen [4]. Obwohl ich in einer Vorbemerkung zu kritischer Aussprache aufforderte, fand der Aufsatz keinerlei Echo. Ich unterschied damals innerhalb des Geisteslebens vier „Provinzen“, nämlich

  1. nominell völlig unabhängige wie
    • Schrifttum
    • bildende Kunst
    • Presse
    • Film
    • die kleineren Kirchengemeinschaften,
  2. solche mit öffentlich-rechtlicher Selbstverwaltung wie
    • die beiden großen christlichen Kirchen
    • den Rundfunk,
  3. nach außen weitgehend vom Staat oder kommunalen Körperschaften abhängige, nach innen aber oft ziemlich unabhängige Einrichtungen wie
    • Hochschulen
    • Theater und Orchester
    • Museen und Archive
    • Bibliotheken
  4. Einen Bereich, „wo der Staat nicht nur den Rahmen, sondern auch die Inhalte der Arbeit laufend mitbestimmt,
    • nämlich das staatliche Schulwesen“.

Mir lag damals daran, einer verbreiteten Klischeevorstellung von einem in allen seinen Teilen völlig vom Staat beherrschten Kulturleben entgegenzutreten. Manches blieb damals unerwähnt, so Tonkunst, Bewegungskunst, Industrieforschung, Fernsehen, Verlagswesen. So nützlich und vielleicht auch notwendig eine solche Übersicht gewesen sein mag, so blieb sie doch zugleich oberflächlich, weil sie sich eben auf juristische Merkmale beschränkte. Es ist jedoch auch der Versuch möglich, darüber hinausgehend das Geistesleben aufzugliedern nach wirklich wesenhaften Merkmalen, nämlich den Tätigkeitsinhalten seiner einzelnen Bezirke. Dabei lassen sich drei Hauptbereiche unterscheiden:

der Kernbereich von Wissenschaft, Kunst und Religion,

[Beiträge, Heft 27, Seite 9]

 

Hier verstehen wir unter „Kunst“ sowohl die Wortkunst (Dichtung und Erzählung) wie die wortlosen Künste: Tonkunst, bildende Kunst und Bewegungskünste (Tanz, Eurythmie, Schattenspiele usw.). Unter „Wissenschaft“ beziehen wir auch den Gesamtbereich der Technologie mit ein.

Das Wirken derer, die dem Kernbereich angehören, setzt voraus die Tätigkeit derer, die im Quellbereich des Geisteslebens tätig sind, nämlich im Bildungswesen. Hier werden junge Menschen für alle drei Hauptbereiche herangebildet, ebenso aber auch für eine Tätigkeit in den beiden anderen Gliedern des Sozialorganismus, nämlich im staatlich-kommunalen Sektor und im Wirtschaftsleben.

Das Bildungswesen ist menschenbezogen. Anders steht es mit dem Stützbereich. Er ist „güterbezogen“, d.h. dient in erster Linie der Förderung bestimmter Geistesgüter — und damit natürlich mittelbar auch den Menschen, die sie hervorgebracht haben. Solche Stützeinrichtungen sind u.a.

als Entstehungsstützen die Verlagsanstalten und Zeitschriften-Redaktionen,
als Verbreitungsstützen Rundfunk, Fernsehen, Buch- und Musikalienhandlungen, Kunstgalerien,
als Bewahrungsstützen Museen, Biblio- (und Disko-)theken, Archive.

Bei den Entstehungsstützen ist aus dem Wesen ihrer Arbeit heraus die wirtschaftliche Komponente sehr stark entwickelt, bei den Bewahrungsstützen aus dem gleichen Grunde der Einschlag verwaltender Tätigkeit.

Die Druckereien können eindeutig nicht dem Geistesleben zugerechnet werden, weil sie, anders als die Verlage, in der Regel keine spezifische kulturpolitische Linie verfolgen, sondern Bücher und Periodika ohne viel Rücksicht auf deren Inhalt drucken. Die Buchhandlungen stehen in dieser Hinsicht zwischen den Verlagen und den Druckereien, sind aber doch wohl eher den primär wirtschaftlichen Unternehmen zuzurechnen.

Daneben gibt es im Umkreis des institutionellen Geisteslebens noch drei Arbeitsbereiche, die sich ihm, wenn überhaupt, dann nur schwer zuordnen lassen. Es sind dies

der Tagesnachrichten-Dienst
die niedere Unterhaltungskunst („Kulturindustrie“)
der Sport.

Unter Tagesnachrichten-Dienst sei verstanden die tägliche Verbreitung von Nachrichten über neue Geschehnisse jeder Art, zum Unterschied von spezialisierten fachlichen Informationsdiensten. Die Weitergabe der Tagesneuigkeiten — vom Jubiläum eines Gesangvereins im Nachbardorf bis zum Vulkanausbruch in Nikaragua oder einer Börsen-Baisse in London — kann ihrem Wesen nach zu jenen Dienstleistungen gerechnet werden, durch welche die Gesellschaft — ähnlich wie im Zustelldienst der Post oder im Fahrdienst der Eisenbahn — jedem Bürger die Deckung seines Bedarfs — hier des Bedarfs an nichtfachlichen Informationen — zum Selbstkostenpreis anbietet, wobei die Frage, ob sie es im Rahmen der staatlichen oder der wirtschaftlichen Organisation tut, zurückgestellt werden kann. Die niedere Unterhaltungskunst (z.B. die meisten Filme und Kabaretts) und der Sport sind gleichsam einander entfremdete Zwillinge, die dem Menschen zwei komplementäre Leistungen anbieten: der eine will berauschend und auflösend in den astralisch-ätherischen, der andere disziplinierend und aufbauend in den ätherischen und physischen Bereich des Menschen hineinwirken. Zugleich aber dient ein Teil des Sportes der Kulturindustrie als Konsumgut für große Zuschauermengen.

Es ist entscheidend wichtig, daß wir überhaupt einmal anfangen, uns Vorstellungen über den heutigen und künftigen Platz all solcher Bereiche in einer dreigegliederten Sozialordnung zu bilden.

[Beiträge, Heft 27, Seite 10]

 

Welches sind heute unsere Vorschläge für die künftige Gestaltung von Verlagswesen, Büchereiwesen, Presse, Film, Rundfunk und Fernsehen? Dürfen wir uns weiterhin erlauben, so zu tun, als existierten diese Bereiche nicht oder doch, als böten sie gar keine Probleme? Oder wollen wir etwa, weil manchem unter uns z.B. die Macht des Fernsehens und die Verkommenheit der Filmkunst zuwider sind, beide indigniert ignorieren?

Es ist da z.B. keineswegs selbstverständlich, daß, würde die Dreigliederung wirklich zum Ordnungsgrundsatz für den sozialen Gesamtorganismus erhoben, alle die eben von mir genannten Arbeitsbereiche überhaupt dem Geistesleben zugeordnet werden würden! Ließen sich nicht möglicherweise Gründe dafür ins Feld führen, einige heute rein erwerbswirtschaftlich strukturierte Kulturbereiche, etwa einen Teil der Stützbereiche oder die Filmproduktion, ins Wirtschaftsleben einzugliedern?

Daß R. Steiner es vor 50 Jahren für richtig halten durfte, bei Forderungen inbezug auf die institutionelle Gestaltung des Geisteslebens die Befreiung des Schulwesens vom Staat zum beherrschenden Gesichtspunkt zu erheben, bedeutet doch nicht, daß wir auch heute noch inbezug auf die meisten anderen Bereiche — zumal die Stützbereiche — schweigsam bleiben dürfen.

Im Zusammenhang damit sei auf einen Gesichtspunkt aufmerksam gemacht, den gerade deutsche Anthroposophen, eben weil sie Deutsche sind, leicht mißachten: nämlich daß es in solchen Fragen keineswegs immer um ein klares Entweder-Oder geht und daß in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten die Dreigliederung eine in vielen und wichtigen Einzelheiten abweichende Gestalt annehmen kann. Das ergibt sich schon aus einem axiomatischen Gestaltungsprinzip, das bei ihrer Verwirklichung anzuwenden ist: daß wir so viel wie irgend möglich an Vorhandenes anknüpfen sollten. Es wäre falsch, ja verhängnisvoll, zu erwarten und anzustreben, daß die Dreigliederung in Schweden zur Schaffung genau der gleichen Sozialgebilde führen müsse oder auch nur dürfe wie in der Bundesrepublik oder in Irland.

1.2 Von der Verzahnung der drei Glieder des Sozialorganismus.

Angesichts der vorstehend angedeuteten Gliederung des Sozialorganismus in drei jeweils in sich zusammenhängende und von den beiden anderen einigermaßen klar abgrenzbare institutionelle Groß-Systeme könnte leicht der Eindruck entstehen, als bestünde zwischen diesen drei Gliedern untereinander nur insoweit ein enger Zusammenhang, wie ihn die Gesellschaftsordnung des betreffenden Landes schafft oder erzwingt. Nichts könnte falscher sein. Vielmehr finden wir, unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsordnung, innerhalb jedes der drei Groß-Systeme Teilbereiche, die wesenhaft in einer engsten Beziehung zu einem der beiden anderen Groß-Systeme stehen.

Ich habe diese Frage 1957 in der Korrespondenz „Soziale Zukunft“ (neben anderen Problemen) angeritzt [5]. Da hieß es u.a.:

„In allen drei Gliedern greift kulturelle, verwaltende und wirtschaftliche Tätigkeit ineinander, nur dominiert jeweils eine von den Dreien.“ Und weiter: „Im Geistesleben wird auch gewirtschaftet und verwaltet, nur sind diese Tätigkeiten den kulturell-schöpferischen (hier) nicht nebengeordnet, sondern dienend ein- und untergeordnet. Im Geistes- wie im Wirtschaftsleben gibt es Verwaltung, aber sie ist nicht Fremdverwaltung durch den Staat, sondern Selbstverwaltung.“

[Beiträge, Heft 27, Seite 11]

 

Hierzu sind vergleichsweise heranzuziehen die Angaben Rudolf Steiners darüber, wie es ein Wollen und Fühlen des Denkens, ein Denken und Fühlen des Wollens, und ein Denken und Wollen des Fühlens gebe [6], so wie auch im physiologischen Organismus das Nerven-Sinnessystem auch Stoffwechsel und Zirkulation, das rhythmische System auch Nervenprozesse und Stoffwechsel usw. enthalte.

Die Teilbereiche, die mit einem anderen Glied des Sozialorganismus als demjenigen, dem sie äußerlich zuzugehören scheinen, eng verwandt sind, möchte ich behelfsweise bezeichnen als

Enklaven (oder Einschlüsse),
Zellen, und zwar Zellen besonderer, von ihrer unmittelbaren Umwelt abweichender Art, also als „Sonderzellen“,
Entsprechungen (oder Korrespondenzen).

Z.B. sind im Wirtschaftsleben

Enklaven solche Einrichtungen, die Leistungen ausgesprochen kultureller oder ausgesprochen verwaltend-rechtlicher Art ausüben, und dabei relativ unabhängig weil juristisch und organisatorisch selbständig sind,

Zellen solche Einrichtungen, für deren Tätigkeit das gleiche gilt wie für die der Enklaven, die aber organisatorisch nicht selbständig sind, sondern kleine Teilorganismen, eben Sonderzellen, im Rahmen eines in seiner Gesamtheit eindeutig auf dem Felde der Wirtschaft tätigen Unternehmens bilden;

Entsprechungen solche rein wirtschaftlich tätigen wirtschaftlichen Unternehmen oder Teilorganismen solcher Unternehmen, die in ihrer Betätigungsweise typische Merkmale entweder der im Geistesleben oder der im staatlichen Bereich üblichen „Aktivitäten“ aufweisen.

Organisatorisch selbständige Enklaven (Einschlüsse) sind z.B.

  1. eine Verwaltungsakademie für die Weiterbildung von Staatsbeamten,
  2. ein von den Firmen der Petrochemie eingerichtetes Forschungsinstitut für diesen Industriezweig,
  3. eine von allen Hochschulen des Landes eingerichtete Einkaufsstelle für das Mobiliar von Hochschulhörsälen, -bibliotheken und -laboratorien.

In den zwei ersten Fällen hat man es zu tun mit Enklaven des Geisteslebens im staatlichen bzw. im wirtschaftlichen Bereich, im dritten mit einer Enklave des Wirtschaftslebens im kulturellen Sektor.

Möglicherweise bezieht sich auf solche kulturelle Enklaven R. Steiners Formulierung, es gebe ein Gebiet „der geistigen Produktion“, zu dem auch der geistige Anteil der beiden anderen Gebiete gehört, der ihnen von dem mit eigener gesetzmäßiger Regelung und Verwaltung ausgestatteten dritten Gliede überliefert werden muss [7].

Als denkmögliche Beispiele für Sonderzellen seien herausgegriffen

  1. das Forschungslaboratorium, die Lehrlingskurse und das Betriebsorchester, die man im Rahmen eines großen Wirtschaftsunternehmens finden kann;

    [Seite 12]

  2. das satzungsgemäß für bestimme Arten inneruniversitärer Zwiste zuständige Schiedsgericht im Rahmen einer Hochschule;
  3. die mit der Anschaffung von Büromaterial und -möbeln befaßte Abteilung eines Ministeriums.

Die jeweilige Eingliederung in ein der Betätigungsart dieser Zellen nicht entsprechendes Groß-System des sozialen Organismus ist hier naturgemäß eine noch weit engere als bei den Enklaven. Trotzdem ist nicht zu übersehen, daß die soeben unter 1) genannten Zellen spezifisch kulturelle Arbeit leisten, wenn auch im Rahmen des Wirtschaftslebens und ohne organisatorische Selbständigkeit. Ebenso leistet die unter 2) aufgeführte Sonderzelle verwaltende Tätigkeit im Rahmen einer bestimmten Einrichtung des Geisteslebens, und die unter 3) skizzierte Stelle wirtschaftliche Arbeit im Rahmen einer einzelnen Organisation des staatlich-kommunalen Groß-Systems. —

In den „Enklaven“ und in den „Sonderzellen“ wird jeweils eine Tätigkeit ausgeübt, die sowohl ihrem Inhalt wie auch ihrem Wesen nach gleichsam ‚herausfällt‘ aus dem Rahmen desjenigen Groß-Systems, in das sie äußerlich eingegliedert ist. Es handelt sich um kulturelle und rechtliche Tätigkeit im wirtschaftlichen Bereich, um rechtliche und wirtschaftliche im kulturellen Bereich, usf.

In einer 1961 erschienenen Abhandlung zur Typologie der Selbstverwaltung habe ich die Selbstverwaltung derjenigen Teilbereiche eines Unternehmens — oder eines ganzen Groß-Systems —, die zu dessen spezifischen Arbeitsinhalten und -zielen gehören, als „Leistungsverwaltung“, hingegen die der unspezifischen Teilbereiche — also etwa der wirtschaftlichen und juristischen Enklaven und Sonderzellen im Geistesleben — als Rahmenverwaltung bezeichnet [8]. Es ist bloße Rahmenverwaltung, wenn eine Hochschule eine reine Wirtschaftsmaßnahme, wie die Erneuerung eines abgenutzten Institutsgebäudes beschließt, hingegen Leistungsverwaltung, wenn sie beschließt, für ein bestimmtes Fachgebiet erstmalig einen Dozenten zu berufen und für ihn ein Institut mit eigenem Gebäude zu schaffen.

2. Zu Wilhelm Schmundts These von der funktionalen Dreigliederung.

2.1 Funktion und institutionelle Dreigliederung.

Vorstehend wurde versucht, andeutend zu skizzieren, wie es im Bereich des Geisteslebens Teilbereiche mit wirtschaftlicher oder rechtlicher Tätigkeit gebe und daß derartige Phänomene ebenso im Bereich des Wirtschafts- und des staatlich-kommunalen Lebens zu beobachten seien. Aber die wechselseitige Verschränkung der drei Groß-Systeme ist damit noch nicht beendet. Auch da, wo innerhalb

des Wirtschaftslebens Tätigkeit rein wirtschaftlichen Inhalts,
des Geisteslebens solche rein kulturellen Inhalts,
des staatlich-kommunalen Lebens solche rein rechtlichen Inhalts

geleistet wird,

[Beiträge, Heft 27, Seite 13]

 

deren selbstverwaltungsweise Betreuung mithin unter den Begriff der Leistungsverwaltung fallen würde, läßt sich eine intime Verklammerung der Groß-Systeme feststellen. Sie besteht darin, daß z.B. im Wirtschaftsleben gewisse Betätigungsarten, deren Inhalt und Auswirkung rein wirtschaftlich sind, auf eine Weise erfolgen, die mehr dem Wesen geistig-kultureller Arbeit entspricht und ähnlich im Geistesleben gewisse Betätigungen rein und unbezweifelbar geistig-kulturellen Inhalts in einer Weise, die eher dem Wesen wirtschaftlicher Betätigung entspricht.

Es ist das Verdienst von Wilhelm Schmundt, uns das Auge für diese Formen von Entsprechungen geöffnet zu haben [9].

So weist er z.B. darauf hin, daß der soziale Organismus nicht nur innerhalb des kulturellen Systems, sondern auch innerhalb des wirtschaftlichen Systems durchzogen ist von einem „Geflecht kollegialer Gremien“ [10], deren Tätigkeit das zustande bringt, was nach Steiner [11] die Aufgabe des Geisteslebens sei, nämlich „die Einsichten, die in der Gemeinschaft wirken sollen“. Es handelt sich um ein Gewebe beratender Gremien, „welche in allen Bereichen des sozialen Lebens Aufgaben, Bedingungen und Ziele der Arbeit beraten und so die Urteilsgrundlagen für das Handeln schaffen“ [12]. Als solche Gremien, die innerhalb des Wirtschaftslebens und inbezug auf spezifisch-wirtschaftliche Aufgaben und Ziele tätig sind, dabei aber eine eher dem Wesen spezifisch geistiger Betätigung entsprechende Arbeit leisten, nennt er z.B. die Aufsichtsräte von Aktiengesellschaften [13], aber auch die Industrie- und Handelskammern [14].

Ähnlich spielen sich nun auch im Bereich des kulturellen Groß-Systems Tätigkeiten ab, die zwar spezifisch und unverwechselbar kulturelle Aufgaben und Ziele verfolgen, ihrem Wesen nach aber insofern den Tätigkeitsarten im wirtschaftlichen System entsprechen, als es hier wie dort um das Befriedigen von Bedürfnissen geht, wenn auch diese Bedürfnisse im wirtschaftlichen System materieller, im kulturellen System geistig-seelischer Natur sind [15].

Schmundt selber spricht keineswegs von bloßen „Entsprechungen“ innerhalb der drei institutionellen Glieder des Sozialen Organismus, sondern ist überzeugt, mit dem, was ich versuchsweise als Entsprechungen bezeichnet habe, das eigentliche Gliederungsprinzip für den Sozialorganismus gefunden zu haben. Ihm zufolge bilden diejenigen Arbeiten, die im geistig-kulturellen System auf eine der geistigen Arbeit spezifisch gemäße Art und Weise geleistet werden, zusammen mit den jeweiligen „Entsprechungen“ im wirtschaftlichen und im staatlich-kommunalen Bereich ein zusammenhängendes Ganzes, eine Art eigenes „Funktionssystem“ oder „Organsystem“, das er als „funktionelles Geistesleben“ dem traditionellen, auch der vorliegenden Studie zugrundeliegenden Begriff eines „kulturellen Geisteslebens“ gegenüberstellt. [16]

Und analog kennt er ein wirtschaftliches und ein rechtsverwaltendes Organsystem. Von diesen drei „Funktions“- oder „Organsystemen“ nimmt Schmundt an,

[Beiträge, Heft 27, Seite 14]

 

sie seien es, die der Dreigliederung des sozialen Organismus zugrunde liegen, und Rudolf Steiner habe nur sie gemeint, wenn er von einem Geistesleben-, Wirtschaftsleben und einem Rechtsorganismus gesprochen habe. Und so verwendet Schmundt in seinen beiden Schriften (und seinen vielen ihnen vorangegangenen Aufsätzen) diese Bezeichnungen durchgängig in diesem neuen Sinne. Seine drei Systeme bilden nicht, wie jene drei Groß-Systeme, um deren versuchsweise Abgrenzung sich der erste Teil dieser Studie bemühte, gleichsam nebeneinanderliegende „Provinzen“, sondern sind intimst ineinander verflochten.

Zu diesem Fragenkreis hat mir W. Schmundt dankenswerterweise längere Ausführungen zugesandt, denen ich mit seiner Erlaubnis folgendes entnehme:

„Wenn man den Versuch macht, die Gestalt des sozialen Organismus konkret zu entwerfen, zeigt sich die Notwendigkeit, die sich aus dem heutigen Entwicklungsstadium der Industriegesellschaft ergibt, den Produktionsbereich und den Konsumtionsbereich zu unterscheiden. Alles Arbeiten der Hausfrauen, der freiberuflich Tätigen, der Kleinbetriebe, der Auslandsproduzenten muß ich dem Produktionsbereich gegenüber als Konsumenten ansehen, als Konsumtionsbereich. Daher der Name „Konsumenten-Institutionen“ für Privatschulen, für wissenschaftliche Vereine, Interessenverbände, Religionsgemeinschaften und auch für die Staats- und kommunalen Haushalte. Dann zeigt sich der Produktionsbereich dreigegliedert nach drei funktional miteinander verbundenen Systemen: dem System der beratenden Kuratorien, dem System der Rechts-vereinbarenden Gremien, dem System der assoziativ verflochtenen Arbeitskollektive. Der Schwerpunkt (eigentlich: die Schwerebene) liegt im letzteren, dem eigentlichen Wirtschaftsleben. Das Funktionssystem „Geistesleben“ findet seine Ausprägung in dem Geflecht beratender Gremien, deren jedes einem „Arbeitskollektiv“ zugeordnet ist. In diesem Funktionssystem kommen die Urteilsgrundlagen für das Leiten des „Unternehmerkapitals“ zustande, in welchem sich die in der produzierenden Arbeit wirkenden Initiativen und Fähigkeiten ausdrücken. Man halte dabei, um den Charakter und die Bedeutung dieses Funktionssystems recht zu verstehen, im Bewußtsein, daß alle Entscheidungen im Arbeitsfeld selbst individuell getroffen werden müssen; der soziale Organismus in seiner Freiheitsgestalt kennt keine Zentralverwaltungen; er kennt nur Selbstverwaltungen. So kann also auch aus dem System des „Geisteslebens“ heraus, obwohl es für das organische Gestalten und Durchgestalten des gesamten Arbeitsfeldes maßgebend ist, keine irgendwie geartete Verwaltung des Tätigkeitsfeldes hervorgehen.

Das „Wirtschaftsleben“ stellt sich im Produktionsbereich als das Feld der Arbeitskollektive dar; es ist das Feld des Handelns, der Arbeit, in allen Unternehmen und Institutionen, das Feld ihres assoziierten Zusammenwirkens.

Das Feld der zwischenmenschlichen Vereinbarungen aber, welche in den beiden Gliedern des Produktionsbereichs, seinem „Geistesleben“ und seinem „Wirtschaftsleben“, getroffen werden, bildet ein drittes Funktionssystem, das dem „Rechtsleben“ des sozialen Organismus angehört.

Öffentliche Schulen, zu denen ja auch die Freien Schulen gehören, haben ihren Ort, wenn man jene Begriffe gelten läßt, gewiß im Produktionsbereich, im arbeitsteilig gefügten, kollektiven Tätigkeitsfeld. Das Arbeitskollektiv bildet die Lehrerschaft und die in der Verwaltung beruflich Tätigen.

[Beiträge, Heft 27, Seite 15]

 

Innerhalb dieses Arbeitskollektivs hat man die beratende Konferenz als „Geistesleben“, die Rechte-vereinbarende und Bevollmächtigungen aussprechende Konferenz als „Rechtsleben“, die in der Bildungsarbeit unmittelbar und selbstverantwortlich stehenden Lehrer und Büro-Angestellten und Hausmeister usw. als „Wirtschaftsleben“. Eingeordnet in das soziale Ganze gehört die Schule als Ganzes zum assoziativ verflochtenen Wirtschaftsleben; der Schulvorstand des Schulvereins, insofern er eine Art beratenden Kuratoriums bildet, und andere Gremien beratender Art, wie die Klassen-Elterngremien, gehören zum „Geistesleben“; der mit Kollegiumsvertretern zusammen Rechtevereinbarende Vorstand des Schulvereins gehören zum „Rechtsleben“.

Man kann diese drei „Glieder“ nur im sozialen Ganzen deutlich als Funktionssysteme je eigener Verwaltung ausbilden. Im einzelnen geht das nicht; da kann man nur angeben, ob ein Vorgang zum Geistesleben oder zum Rechtsleben oder zum Wirtschaftsleben gehört, aber man kann nicht eigene Systeme daraus machen. Wenn z.B. der Büroleiter der Schule irgend eine Arbeit im Rahmen des Aufgabengebietes verrichtet, zu dessen Erfüllung er verpflichtet und bevollmächtigt ist, dann steht er im „Wirtschaftsleben“; vereinbart er mit dem Arbeitskollektiv Rechte für seine eigene Tätigkeit, steht er im Rechtsleben, vereinbart er Rechte mit einem neu einzustellenden Mitarbeiter, dann steht er im Wirtschaftsleben, sofern er zu diesem Tun bevollmächtigt ist; derjenige, mit dem er die Rechte vereinbart, aber steht im Rechtsleben; und nimmt er an den Beratungen im Vorstand oder in der Lehrerkonferenz teil, steht er im Geistesleben.

Das alles ergibt sich einfach aus der Sache heraus. Die vorgefaßten Unterteilungen in die drei Glieder stören mehr, als daß sie helfen, so scheint mir. Natürlich ist wichtig, daß die Lehrerkonferenz deutliches Bewußtsein davon hat, ob sie in der Beratung sich befindet oder dann in den Rechtsbereich übertritt, wenn sie einen Kollegen mit einer Aufgabe betraut. Aber dazu braucht man eigentlich nicht die „Dreigliederung“, dazu reicht der gesunde Menschenverstand. Und es genügt, wenn man von den einfachen Ansätzen ausgeht:

1. wenn ich in meinem Aufgabenbereich, den zu versehen ich mich verpflichtet habe und zu dem ich bevollmächtigt wurde, arbeite, dann stehe ich im Wirtschaftsleben;
2. wenn ich mit anderen Menschen zusammen Rechte vereinbare, stehe ich im Rechtsleben;
3. wenn ich mit anderen zusammen über das Sachgemäße des im Wirtschaftsleben zu Tuenden und im Rechtsleben zu Vereinbarenden berate, stehe ich im Geistesleben.

Hält man an diesen einfachen Ansätzen fest, dann kommt man im konsequenten Durchdenken zu den Ergebnissen, die ich versuchte, in den Schriften darzulegen.“

Überdenkt man diese Schilderung, so kann einem klarwerden, daß sich bei Schmundt das, was er „Geistesleben“ und das, was er „Wirtschaftsleben“ nennt, annähernd so gegenüberstehen wie innerhalb eines demokratischen Gemeinwesens Legislative und Exekutive. Dabei haben wir freilich auszugehen von jenem frühdemokratischen Modell, wonach die Exekutive nur auszuführen hat, was zuvor die Legislative

[Beiträge, Heft 27, Seite 16]

 

beschlossen hat. (In den heutigen Demokratien hat bekanntlich die Exekutive einen ganz erheblichen Teil der normensetzenden Initiative und Zuständigkeit an sich gezogen und ein anderer Teil der Normenplanung liegt in den Händen von Planungs-Gremien, die teils von der Exekutive, teils von der Legislative eingesetzt sind und wegen ihres Expertentums nur schwer von der Exekutive und noch weniger von der Legislative kontrolliert werden können [17].)

Legislative und Exekutive sind ihrem Wesen nach so aufeinander bezogen, daß sie nicht zwei verschiedene räumliche oder institutionelle Verwaltungsbereiche repräsentieren, sondern nur innerhalb des gleichen Verwaltungsbereichs wirksam sein können. Und die Exekutive hat ursprünglich, ihrer Namensbedeutung entsprechend, das auszuführen und auszugestalten, wofür die Legislative die Grundlagen oder besser: den Rahmen geschaffen hat.

Wenn man dem Wort „Rat“ nicht die enge Bedeutung gibt, die es in Wörtern wie Beratung und Ratgebung besitzt, sondern jene umfassendere, die etwa in dem Worte „Ratschluß“ anklingt, dann kann man vielleicht auch von einer Gegenüberstellung wie „Rat und Tat“ ausgehen und sagen: Schmundt's Bezeichnung „Geistesleben“ zielt auf eine Ratsphäre, seine Bezeichnung „Wirtschaftsleben“ auf die ihr entsprechende Tatsphäre.

2.2 Handelt es sich um ein Entweder-Oder?

Schmundt's Thesen haben bedeutenden Widerhall gefunden; nicht zufällig ist seine Schrift von 1968 durch die Sozialwissenschaftliche Sektion der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ am Goetheanum in Dornach veröffentlicht worden, und seine gleichsinnige zweite Schrift gleichsam an einem Gegenpol innerhalb der anthroposophischen Bewegung, nämlich durch das Internationale Kulturzentrum Achberg (I.N.K.A.). Es ist somit wichtig, daß der Anfang zu einer Aussprache gemacht werde, die die einzelnen Thesen Schmundts — er hat u.a. auch selbständige Gedanken über das Wesen des Geldes entwickelt — beleuchtet. Inbezug auf seine These, wir hätten uns die Dreigliederung ganz als eine funktionale und durchaus nicht als eine institutionelle vorzustellen, sind zunächst drei Fragen zu klären:

  1. Ob Schmundt's These zutrifft, daß sich in den von ihm aufgezeigten Phänomenen drei zusammenhängende Funktionssysteme offenbaren;
  2. Ob, falls die erste Frage mit Ja zu beantworten ist, anzunehmen ist, daß sich Rudolf Steiner, wenn er von Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rechtsleben spricht, diese und verwandte Bezeichnungen immer oder doch vorwiegend auf eben diese von Schmundt gemeinten Funktionszusammenhänge bezogen hat oder zum mindesten nicht selten auf jene Gesellschaftsbereiche, die man bisher herkömmlicherweise als Kultur- (oder Geistes-) leben usw. bezeichnet hat.
  3. Ob es sich, falls die beiden ersten Fragen mehr oder weniger bejaht werden, für uns um ein „Entweder-Oder“ oder um ein „Sowohl-Als-Auch“ handelt und wie wir dementsprechend die von Schmundt gemeinten Sachverhalte künftig bezeichnen sollten.

[Beiträge, Heft 27, Seite 17]

 

Die erste Frage möchte ich bejahen, ohne hier näher auf sie einzugehen. Schmundt hat mit dem, was im 1. Teil dieser Studie „Entsprechungen“ genannt wurde, neue Ganzheiten entdeckt, wenn man dabei auch schwerlich von Organsystemen, sondern allenfalls von Funktionssystemen sprechen kann.

Auf die zweite Frage kann schon heute zum mindesten eine Teilantwort gegeben werden. Denn R. Steiner hat (Schmundt selber bestreitet das nicht), wenn er von den drei Gliedern des Sozialorganismus sprach, bestimmt nicht immer die Schmundt'schen Funktionssysteme, sondern zum mindesten nicht eben selten die traditionellen Bereiche „Staat, Wirtschaft, Geistesleben“ gemeint.

Das sei immerhin an einigen Beispielen veranschaulicht.

So heißt es z.B. in den „Kernpunkten“ einmal [18] über die Beziehungen zwischen „Rechtsstaat“ und „Wirtschaftsgebiet“: „Ein solcher Rechtsstaat hat seinen eigenen Gesetzgebungs- und Verwaltungskörper.... Das Wirtschaftsgebiet wird aus den Impulsen des Wirtschaftslebens heraus seine Gesetzgebungs- und Verwaltungskörperschaften bilden. Der notwendige Verkehr zwischen den Leitungen des Rechts- und (des) Wirtschaftskörpers wird erfolgen annähernd wie gegenwärtig zwischen den Regierungen souveräner Staatsgebiete“.

Diese Sätze können sich schlechterdings nicht beziehen auf Schmundts Organsysteme. Denn das im Sinne von Schmundt aufgefaßte Wirtschaftsleben hat ja, wie wir sahen, auszuführen und auszugestalten, was vom Geistesleben beschlossen worden ist.

Oder man nehme Dr. Steiners wiederholte Hinweise darauf, daß sich die geographischen Grenzen der räumlichen Gebiete, die jeweils einer einheitlichen geistig-kulturellen, wirtschaftlichen und staatlichen Verwaltung unterstehen durchaus nicht immer zu decken brauchen [19]. Bei Schmundt's Funktionssystemen wäre ein solches Auseinanderklaffen der Grenzen nicht denkbar. Im Anschluß an einen solchen Hinweis auf die Gebietsgrenzen beantwortet Steiner die Frage, wie unter solchen Umständen „das Geistesleben aus dem Wirtschaftsleben seinen Unterhalt beziehen soll....“. Die Antwort ergebe sich, „wenn man bedenkt, daß ein sich selbst verwaltendes Geistesleben dem selbständigen Wirtschaftsleben als eine Wirtschaftskooperation gegenübersteht. Diese kann für ihre wirtschaftlichen Grundlagen mit den Wirtschaftsverwaltungen ihres Gebietes Beziehungen eingehen, gleichgültig zu welchem größeren Wirtschaftsgebiet diese Verwaltungen gehören“ [20].

Die Beispiele, wo Steiner von den drei Gliedern des Sozialorganismus in einer Weise spricht, die nur sinnvoll ist, wenn man von der herkömmlichen Gliederungsweise ausgeht, ließen sich leicht vermehren [21], — z.B. dort, wo er von einem „Zusammenschluß der drei Glieder durch eine Gesamtkörperschaft“ spricht [22].

Ein besonders überzeugendes Beispiel bildet auch der — doch zweifellos von Steiner gebilligte — „Aufruf zur Begründung eines Kulturrates“ von Pfingsten 1919 [23], auf den sich Schmundt's Dreigliederungsweise durchaus nicht anwenden läßt.

[Beiträge, Heft 27, Seite 18]

 

Damit ist auch schon die Antwort gegeben auf die Frage, ob es etwa heute berechtigt sein könnte, die traditionellen Konzeptionen von Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rechtsverwaltung als drei nebeneinanderliegenden „Provinzen“ von jetzt an völlig zu ignorieren und sich nur noch mit den von Schmundt gemeinten Organsystemen zu befassen. Selbst wenn es künftig innerhalb der Dreigliederungsbewegung zu völliger Einmütigkeit darüber käme, daß die von Schmundt vorgeschlagene Gliederungsweise die einzig berechtigte sei, bliebe ja die Tatsache bestehen, daß sowohl Rudolf Steiner wie das ältere Dreigliederungsschrifttum die Bezeichnungen für die drei Glieder oder Systeme sehr häufig, wenn nicht gar immer, im hergebrachten, d.h. im institutionellen Sinne verwenden. Ganz zu schweigen davon, daß die nichtanthroposophische Umwelt diese Bezeichnungen weiterhin tagaus tagein im hergebrachten Sinne verwenden würden. Ja selbst dort, wo sie bereit wäre, sich dem Dreigliederungsgedanken Schmundt'scher Prägung zu öffnen, würde sie noch auf unabsehbar lange Zeit hinaus fortfahren, dann eben jene traditionellen Bedeutungsinhalte zu verwenden.

In Wirklichkeit könnten aber die auf Schmundt's Seite stehenden Dreigliederer niemals umhin, sich auch im internen Gespräch immer wieder einmal zu beziehen auf die herkömmlichen Vorstellungen von einem Wirtschaftsleben, das materielle Güter, und von einem Geistesleben, das immaterielle Güter herstellt. Es trifft einfach nicht zu, was Schmundt annimmt, ohne es zu beweisen: daß diese Unterscheidung eine nebensächliche wenn nicht gar willkürliche sei.

So schreibt er einmal [24]:

So auch ist es da, wo man von der sozialen Dreigliederung spricht, weitgehend üblich, das Wirtschaftsleben als dasjenige Glied zu schildern, welches die „leiblichen“ oder die „materiellen“ Bedürfnisse zu befriedigen habe. Mit diesem Begriff sitzt man aber auf dem Trockenen, sobald man ihn konkretisieren will. Wo — um nur das Äußerliche anzuführen — sind die Grenzen zwischen den Produzenten, die ihre Arbeit auf materiellen Bedarf ausrichten, und denen, welche seelische und geistige Bedürfnisse befriedigen wollen, und inwiefern sind diese Grenzen im Hinblick auf die Produzierenden wesentlich? Ein fruchtbarer Gesichtspunkt ergibt sich, wenn man mit dem Begriff „Wirtschaftsleben“ zunächst alles umfaßt, was die Berufstätigen in der Arbeit zuwege bringen.

So nötig es ist, die in marxistischen Kreisen immer wieder auftauchende Vorstellung zurückzuweisen, daß bloß die Hervorbringung materieller Güter als „Produktion“ gelten dürfe, und so richtig und verdienstlich Schmundt's Hinweis ist, daß der Lehrer in mancher Hinsicht nicht anders in seiner Schule drinsteht als der Unternehmer in einem Betrieb, der materielle Güter herstellt, so sicher bleibt, daß in mancher anderen Hinsicht eben doch ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Betätigungsarten und ihrer Funktion im sozialen Organismus besteht. Man kann das, wenn man davon ausgeht, daß in allem menschlichen Tun sowohl Zwecke wie Werte verwirklicht werden sollen, so ausdrücken, daß im Bereich der wirtschaftlichen Güterproduktion die Zwecke den Vorrang haben, im Bereich des Kulturlebens die Werte. Dieser Tatbestand verwischt sich zuweilen im Quellbereich (Bildungswesen) und erst recht im Stützbereich des Geisteslebens, aber er wird ganz eindeutig im Kernbereich, dort wo es um die reine Verwirklichung wissenschaftlicher, künstlerischer und religiöser Anliegen geht, und wo die „Zwecke“, also so etwas wie die Deckung eines vorgegebenen, in seinen ungefähren Umrissen bekannten Bedarfes, ganz zurücktreten.

[Beiträge, Heft 27, Seite 19]

 

Die Wirtschaft arbeitet immer für die Deckung eines mehr oder minder meßbaren Bedarfs; im voraus zu ermitteln, ob ein solcher Bedarf vorliegt, ist eine vorrangige Aufgabe des Unternehmers im Wirtschaftsleben. Anders steht es im Geistesleben, zumal in seinem Kernbereich: echte wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeit entsteht nicht zur Deckung eines im voraus festgestellten Bedarfs, also gleichsam eines „Unterschusses“ beim Verbraucher, sondern aus einem schöpferischen Kraftüberschuß beim „Produzenten“, der seine Leistung vollbringt, gleich ob er für sie Abnehmer findet oder nicht.

Es kann sich also in gar keiner Weise darum handeln, daß Schmundt's Gliederungsweise die herkömmliche (im Sinne eines Entweder-Oder) vollständig ablöst und ersetzt, sondern lediglich darum, ob beiden Gliederungsweisen eine gewisse Berechtigung zuzuerkennen wäre oder ob wir nicht vielmehr bei der traditionellen beharren sollten.

Daraus ergibt sich nun zwingend eine terminologische Folgerung. Wenn neben den drei Funktionssystemen Schmundt's auf unabsehbare Zeit hinaus auch die herkömmlichen drei institutionellen Groß-Systeme des Sozialen Organismus Gegenstand von Realbetrachtungen und -untersuchungen sein werden, dann ist es irreführend, ja logisch unzulässig, für beide die gleichen Bezeichnungen zu gebrauchen und insbesondere sowohl im einen wie im anderen Fall von 'Geistesleben' und 'Wirtschaftsleben' zu sprechen.

Schmundt begeht hier den in der Forschung nicht ganz seltenen Fehler, für einen neuentdeckten Tatbestand eine Bezeichnung zu übernehmen, die alteingebürgert und unentbehrlich ist für einen verwandten und längst bekannten Sachverhalt.

Hierfür ein Beispiel aus der Fachwissenschaft:

Für die „Sprachgemeinschaft“, d.h. für die Gesamtheit der Menschen gleicher Muttersprache, verwendet die englische Sprachgemeinschaft vorwiegend den Ausdruck „speech community“ [25]. Nun hat der amerikanische Forscher John Gumperz erstmalig ein verwandtes Phänomen beschrieben und analysiert, nämlich die Gemeinschaft der Menschen, die über das gleiche ‚Repertoire‘ an Mutter- und Zeitsprachen und/oder von Dialekten und Soziolekten verfügen. Diese Erscheinung nun benannte er ‚speech community‘ — und fand darin Nachfolger, sodaß man heute beim Lesen einschlägigen amerikanischen Fachschrifttums häufig erst feststellen muß, in welcher der beiden Bedeutungen ‚speech community‘ verwendet wird.

Dieses Beispiel stehe hier für manche ähnlichen.

Vor einiger Zeit hörte ich in Achberg einen Vortrag über die Rechts- und Verwaltungsstruktur einer bestimmten Waldorf-Schule in den Niederlanden. In diesem Vortrag wurde ganz im Sinne Schmundts als „Wirtschaftsorgan“ der Schule bezeichnet dasjenige Gremium, welches den Ausgleich zwischen den Wünschen und Bedürfnissen der Lehrerschaft auf der einen und der Elternschaft auf der anderen Seite zu finden hat; nicht zum Arbeitsbereich dieses „Wirtschaftsorgans“ gehörte hingegen z.B. die Gebäudeverwaltung. Eine solche Bezeichnungsweise mag sich eine Waldorfschule für ihre internen Aussprachen allenfalls leisten können. In der Auseinandersetzung mit unserer Umwelt müssen wir sie vermeiden, wenn wir verstanden und ernstgenommen werden wollen.

[Beiträge, Heft 27, Seite 20]

 

So scheint es unumgänglich zu sein, daß Schmundt für die Phänomene, die er herausgearbeitet hat, neue Bezeichnungen verwendet — und seien es selbst banal erscheinende Bezeichnungen wie Ratsphäre und Tatsphäre für „sein“ Geistes- und Wirtschaftsleben. Zwar könnte er einwenden, auch Dr. Steiner habe wiederholt Bezeichnungen, die in der Sprache bereits mit einer ganz bestimmten Bedeutung gebraucht wurden — wie Geisteswissenschaft, Einheitsstaat, Assoziation, Werkwelt — in einer neuen, von der gebräuchlichen zuweilen sehr stark abweichenden Bedeutung verwendet. Aber ihm war mehr erlaubt als jedem einzelnen von uns.

Schmundt hat mit seinen Hinweisen der Sozialwissenschaftlichen Forschung wertvolle Hinweise gegeben, die sie weit gründlicher ausschöpfen und auswerten sollte, als es in den vorstehenden Andeutungen geschehen konnte. Die bisherige Dreigliederungsforschung wird durch sie nicht abgelöst, aber ergänzt und bereichert.

Abschließend sei noch betont, daß die Dreigliederung des sozialen Organismus eine viel zu verästelte und verzweigte ist, um jemals auf dem organisatorischen Felde vollständig nachgebildet werden zu können. Es ist schon so, wie B. Hardorp 1972 einmal schrieb [26]:

Der soziale Organismus lebt faktisch in vielen Sozialgebilden, die nicht in das alte Dreiteilungsschema passen. Jedes Sozialgebilde — eine Schule, eine Fabrik, ein Krankenhaus z.B. — ist ein einheitliches Ganzes, das als Einheit jedoch in dreigliedriger Funktion verstanden werden kann.

Jedes Sozialgebilde wird von zielgerichteter Initiative — einheitlich oder abgestuft bewußt bei seinen einzelnen Mitgliedern — getragen; ihm dienen die lebensabschnittweise zur Verfügung stehenden Existenzmittel; es lebt in Frieden oder unter Spannungen und deren Wechselwirkung nach dem Maß der geübten Verständigungsfähigkeit seiner Mitglieder.

Diese Dreigliederung läßt sich in der Tat nicht selten nur in ernsthaften Bemühungen um ein bewußteres Selbstverständnis innerhalb der einzelnen Sozialgebilde ins Tageslicht rücken, und keineswegs immer auch mittels äußerer organisatorischer Abgrenzungen. Dieser Hinweis aber muß abermals — wie weiter oben die Hinweise Schmundts — im Hinblick auf die bisherige, sich am Institutionellen orientierende Dreigliederungsliteratur verstanden werden im Sinne eines Sowohl-Als-Auch, nicht in dem eines Entweder-Oder. Hier gilt Hartwig Wilkens Warnung, oft halte „jeder den Zipfel der umfassenden Dreigliederungswahrheit, den er bei seinen Bemühungen gerade erwischt hat, für die ganze Wahrheit“ [27].

Reicht die Dreigliederung doch nicht nur in die kleinsten Sozialgebiete und -gruppen hinein, sondern auch in jeden einzelnen Menschen, der, mag das Schwergewicht seines Wirkens noch so eindeutig, ja ausschließlich innerhalb eines der drei Groß-Systeme des sozialen Organismus liegen, doch immer wieder auch Handlungen auszuführen hat, die ihn für einen Augenblick — vielleicht nur wenige Minuten — wie einen Angehörigen eines der beiden anderen Groß-Systeme handeln lassen.

Die Dreigliederung ist ein Mysterium und entzieht sich als Ganzes dem planenden Kalkül und dem organisatorischen Zugriff. Das entbindet uns nicht von der Verpflichtung, das an ihr, was sich nach außen hin klar abgrenzen läßt, nun auch entsprechend umzuorganisieren — im klaren und bescheidenen Bewußtsein von der Unzulänglichkeit solches notwendig grobschnittigen Handelns.

Anmerkungen

[1] Kernpunkte, Ausg. 1973, S. 9. — Vgl. a.: In Ausführung der Dreigliederung des sozialen Organismus, Ausg. 1920, S. 5: „das Geistesleben (das Erziehungs- und Schulleben)“, und ebenda S. 20: „das geistige Leben — mit dem Erziehungs- und Schulwesen.“

[2] R. Steiner: Kernpunkte, Ausg. 1919, S. 42

[3] Verf.: La synarchie de St. Yves d'Alveydre. In: Triades, Paris, Jg. 22, H. 1, 1974, S. 40-46

[4] Verf.: Geistesleben zwischen Freiheit und Bindung. In: Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus, Jg. 7, H. 3-4, Sept. 1962, S. 4-10

[5] Verf.: Verwaltung und Anarchie im dreigliedrigen Sozialorganismus In: Soziale Zukunft, Korr. für Dreigliederungsarbeit, Freiburg, H. 1-2, Jan. - Febr. 1957, S. 6-10

[6] Vgl. z.B. den 97. Leitsatz

[7] Kernpunkte. Ausg. 1920, S. 112

[8] Verf.: Typen der Selbstverwaltung. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung. Verwaltung..., Jg. 81, 1961, S. 64-93

[9] Vgl. vor allem W. Schmundt: Der soziale Organismus in seiner Freiheitsgestalt, Dornach: Philosophisch-anthrop. Verlag 1968 u.: Revolution und Evolution. Auf dem Wege zu einer Elementarlehre des sozialen Organismus, Achberg: edition dritter weg 1973. Die Schriften werden hier als Sch. 1968 und Sch. 1973 zitiert.

[10] Sch. 1973, S. 126

[11] Hierzu Sch. 1973, S. 92

[12] Sch. 1968, S. 101

[13] Sch. 1968, S. 42

[14] 1968, S. 45

[15] Hierzu u.a. Sch. 1973, S. 117-18

[16] Sch. 1973, S. 92

[17] Willi Geiger in: Frage der Freiheit, Nr. 106, 1973, S. 7

[18] Ausg. 1919, S. 38

[19] Vgl. z.B. R. St.: Soziale Zukunft, hg. von R. Boos, Bern 1950, S. 186 (Vortrag v. 29.10.1919). — R. St.: In Ausführung der Dreigliederung des Sozialen Organismus, Dornach 1920, S. 9

[20] Steiner 1920 (s. vor. Anm.) S. 9

[21] siehe auch H. Wilken in „Beiträge“ zur Dreigliederung des soz. Organismus“ Jg. 15, Mai 1973 S. 88-89

[22] R. St.: Zur Dreigliederung... Ges. Aufsätze 1919-21, Stgt. 1962 (R. St. Taschenbuch-Ausgaben H. 10), S. 101

[23] Kernpunkte, Ausg. 1919, S. 121 ff.

[24] Sch. 1973, S. 93-94. Dazu ausführlich Sch. 1973, S. 129-30

[25] neben seltenerem ‚language community‘

[26] „Verständnis gesellschaftlicher Situationen...“. In: Beiträge zur Dreigliederung H. 1-2,1972,S. 31

[27] Wilken in Beiträge..., Mai 1973, S. 89

[Beiträge, Heft 27, Seite 21]

 

 

Nachbemerkung der Redaktion

Wilhelm Schmundt bekam den vorstehenden Aufsatz vor seiner Veröffentlichung zu Gesicht und bat darum, die folgende Zuschrift unbedingt nach dem Aufsatz zu bringen. Wir leisten dieser Bitte gerne Folge, auch wenn wir kein „Unheil“ erblicken können. Wir können aber auch nicht sehen, daß die Zuschrift zu einer weiteren Klärung des Problems beiträgt. Es wäre z.B. sicherlich wichtig, das Verhältnis der sozialen Dreigliederung zu den drei menschlichen Wesensgliedern Leib, Seele, Geist einsichtig zu machen, was aber leider nicht geschieht. Bekanntlich hat R. Steiner auch darüber gesprochen und zwar im Verhältnis zu den drei Idealen: Brüderlichkeit für die Leiber, Freiheit für die Seelen, Gleichheit für den Geist (s. Vortrag v. 19.10.1918, GA 185).

Andererseits sollte es doch zu denken geben, daß R. Steiner im Vorwort seiner sozialen Grundschrift „Die Kernpunkte der sozialen Frage...“ ganz offensichtlich die (nach Kloss) „traditionelle“ Dreigliederung meint, wenn er von drei Verwaltungen und Gesetzgebungen für die drei Gebiete spricht und im ersten Kapitel sich trotzdem auf die drei „Organsysteme“ (Kopf-, rhythmisches- und Gliedmassensystem) bezieht. Wenn man schon Entsprechungen zwischen den zwei Auffassungen der Dreigliederung mit dem Menschen sucht, dann kann man vielleicht auf die Formulierungen, die Steiner selbst verwendet, zurückgreifen: Die sog. „traditionelle“ Auffassung der Dreigliederung bezieht sich auf das „Kopf-, Brust- und Gliedmaßensystem“, die funktionelle von Schmundt auf das „Nerven-Sinnes-, rhythmische- und Stoffwechselsystem“. Damit ist zwar jedesmal dasselbe gemeint, aber im ersteren Falle mehr die quasi „räumlichen“ Schwerpunkte, im letzteren Falle mehr der funktionelle Aspekt. Damit würde sich auch ein möglicher Widerspruch aufheben, zumindest im Prinzipiellen.

Der Klarheit halber sei noch erwähnt, daß die angeführte Besprechung in Hannover nicht etwa zu einem Einschwenken aller Beteiligten auf die „Schmundt'sche Linie“ geführt hat, wohl aber zu einem größeren Verständnis seiner Position.

Die Redaktion

[Sylvain Coiplet: gemeint ist die Redaktion der Zeitschrift „Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus“, vermutlich Hartwig Wilken]

Wilhelm Schmundt

Abwehr eines möglichen Unheils

Man kann es überaus dankbar empfinden, daß Heinz Kloss in dem hier vorangehenden Aufsatz zwei anscheinend widersprüchliche Anschauungen zur Dreigliederung des sozialen Organismus so deutlich und gründlich gegenüberstellt: die weit verbreitete traditionelle und die im zweiten Teil seines Aufsatzes gekennzeichnete. Es ist jetzt nicht meine Absicht, auf den Inhalt des Dargelegten einzugehen, wiewohl viel Zustimmendes und manches Berichtigende dazu zu sagen wäre. Es kommt mir hier darauf an, ein Unheil abzuwenden, bevor es sich auszuwirken vermag.

Die Entdeckung des sozialen Organismus in seiner Dreigliederigkeit gehört zu den Großtaten Rudolf Steiners. Worauf der zweite Teil des Kloss-Aufsatzes hinweist, handelt von dieser Entdeckung; sie als Entdeckung eines anderen Menschen anzusprechen, das kann unermeßliches Unheil anrichten.

Wenn Rudolf Steiner die Struktur des sozialen Organismus in gleicher Weise verstanden wissen will wie diejenige des menschlichen Organismus, dann kann man mit den Namen „Geistesleben“, „Rechtsleben“, „Wirtschaftsleben“, mit denen Rudolf Steiner diese Glieder belegt, nur die Funktionssysteme meinen, die den drei Funktionssystemen des Menschenorganismus entsprechen: „Gliedmaßen-Stoffwechsel-System“, „Atmungs-Blutkreislauf-System“, „Nerven-Sinnes-System“. Was der erste Teil des Kloss-Aufsatzes als die traditionelle Anschauung der sozialen Dreigliederung schildert, ist mit der Dreiheit des Menschen als Geist, Seele, Leib zu vergleichen. Und wie Rudolf Steiner diese Dreiheit, die sein ganzes Werk durchzieht, gleich zu Beginn seines geisteswissenschaftlichen

[Beiträge, Heft 27, Seite 22]

 

Wirkens („Theosophie“ 1904) darlegt und erst sehr viel später („Von Seelenrätseln“ 1917) den dreigegliederten Menschenorganismus zu schildern vermag, so kann man leicht von den drei Bereichen des Sozialen sprechen: „Geistes- oder Kulturbereich“, „Rechtsgebiet“, „Wirtschafts- oder Tätigkeitsfeld“, bekommt aber damit nicht den sozialen Organismus mit seinen institutionalisierten drei Funktionssystemen ins Blickfeld.

Vieles spricht dafür, daß die Zeit nun dafür reif ist. Dazu gehört z.B. ein Ereignis, das ich als gewichtig ansehen muß: es hat am 1./ 2. Mai ein Kolloquium in Hannover stattgefunden, zu dem die Freie Waldorfschule freundlicherweise einen Raum zur Verfügung stellte, bei welchem in vollem Maße herausgearbeitet werden konnte, was hier soeben gesagt wurde. An dem Gespräch waren insbesondere beteiligt: der in Norwegen weithin angesehene Volkswirtschaftler Professor Leif Holbaek-Hanssen (Bergen), der Erkenntnistheoretiker Professor Dr. Lothar Udert (Bochum), der als vorzüglicher Kenner der „Elementarlehre des sozialen Organismus“ bekannte Ulrich Rösch vom Institut für Sozialforschung und Entwicklungslehre in Achberg.

Die hier anfangs gemachte Aussage, die Entdeckung des sozialen Organismus in der Dreigliederigkeit, wie sie sich den Forschungen ergeben hat, von denen der zweite Teil des Kloss-Aufsatzes spricht, sei die Entdeckung Rudolf Steiners und keines anderen, gewinnt hierdurch ein nicht geringes Gewicht. Und so ergeht die Bitte an alle, die die soziale Dreigliederung in irgend einer Weise vertreten, das Verbinden dieser Entdeckung mit einem anderen Namen, wie es Kloss tut, nicht zu vollziehen, weil es in unheilvoller Weise falsch ist.

[Beiträge, Heft 27, Seite 23]

 

Quelle

Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus, 17. Jahrgang, Oktober 1975, Heft 27, Seite 8-23