Machiavellismus, Nationalismus und soziale Ordnung

01.01.1921

Karl Heyer war zu der Zeit, als er diesen Aufsatz verfasste, im Rahmen der Dreigliederungskampagne in Oberschlesien gegen den Nationalismus aktiv. Dementsprechend kommt er auf die Vereinnahmung von Geistesleben und Wirtschaftsleben durch den Nationalstaat zu sprechen. Der Aufsatz könnte aber auch als Illustration für folgende Aussage Rudolf Steiners dienen: „Denn so viel Nationalismus in der Welt entstehen wird, so viel Unwahrheit wird in der Welt sein, besonders gegen die Zukunft hin.“

Sylvain Coiplet

Quelle
Zeitschrift „Soziale Zukunft“
Heft 8, 1921, S. 126-130
Bibliographische Notiz

Für ein lebendigeres und vertieftes Geschichts- und Sozialverständnis wird es in Zukunft von großer Bedeutung sein, weit mehr als es in der bisherigen offiziellen Wissenschaft der Fall war, neben den Zusammenhängen, die in einer den Menschen bewußten Weise, gleichsam an der Oberfläche, die historischen und sozialen Erscheinungen verknüpfen (durch bewußte menschliche Motive und Beeinflussungen jeder Art) auch besonders auf jene tieferen Zusammenhänge zwischen den welthistorischen und sozialen Erscheinungen und Strömungen einzugehen, die au der Oberfläche nicht ohne weiteres erkennbar, dennoch um so wirksamer in der Tiefe walten und aus gewissen zugrundeliegenden geistigen Impulsen der jeweiligen geschichtlichen Perioden hervorgehen. Ein solcher Zusammenhang, der für das Wesen der neuzeitlichen Staats- und Völkerentwicklung überaus auf schlußgebend ist, wenn man ihn eingehender betrachtet, ist der zwischen der neuzeitlichen Strömung des Nationalismus und derjenigen Erscheinung, die man als Machiavellismus zu bezeichnen pflegt. Nationalismus und Machiavellismus sind durch vielfache unterirdische Kanäle verbunden, sie gehören zusammen.

Der Machiavellismus ist die berüchtigte politische „Klugheits“lehre, die nichts kennt, als den eng verstandenen „Nutzen“ der eigenen Partei, das eigene selbstsüchtige Interesse, der dieses Interesse dermaßen zum höchsten und einzigen Zweck wird, daß es alle Mittel, auch die verwerflichsten, sanktioniert. Ob von einer solchen „machiavellistischen“ Staats„klugheit” gröbere Mittel, wie Dolch und Gift, oder feinere, diplomatischere Mittel angewendet werden, ist eine Frage von sekundärer Bedeutung: entscheidend ist die Gesinnung des absoluten Egoismus, das Nichtberücksichtigen der Lebenssphäre des anderen außer da, wo diese Berücksichtigung der eigenen Partei unmittelbar Vorteile zu bringen

[Soziale Zukunft, Heft 8, 1921, Seite 126]

verspricht. Dieser theoretisch ja viel verschriene Machiavellismus hat sich praktisch seit der Renaissancezeit als ein überaus wirksamer Impuls vergiftend in die Verhältnisse der Staaten eingelebt, überall die Gegensätze zwischen den Staaten und damit auch zwischen den Völkern bewußt gemacht, hervorgehoben und ungeheuer verschärft.

Mit diesem Wirken des machiavellistischen Impulses ist in der Neuzeit die Entwicklung in den Nationalismus Hand in Hand gegangen. Bekanntlich hat sich der Nationalismus in engem Zusammenhange mit der Herausbildung der modernen Nationalstaaten entwickelt, welche die vielgepriesene Erfindung Westeuropas waren (Spanien, Frankreich, England). Es wurde immer mehr als eine Art Ideal aufgefaßt, daß Staat und Nation sich decken sollten, und in gleichem Maße, wie dieses „Ideal“ verwirklicht wurde, begannen die Staaten das gesamte, auch wirtschaftliche und kulturelle Leben der Nationen aufzusaugen. Man denke z. B. an die Verstaatlichung des französischen Geisteslebens unter Ludwig XIV. und an die Verstaatlichung des Wirtschaftslebens in allen Ländern, in denen der Merkantilismus seine Triumphe feierte. In Verbindung mit alledem stand nun jene einseitige Steigerung des Nationalbewußtseins, die einen so wesentlichen Inhalt aller neuzeitlichen Geschichte ausmacht, und deren Früchte erst in unserer Zeit ganz ausgereift sind. Alles das, was an mehr triebhaften Mächten in den nur nationalen Empfindungen und Bestrebungen lebt, begann in eben dem Maße von den Menschen Besitz zu ergreifen, wie der alte oft mehr instinktive Sinn für einen universalen Zusammenhang der Menschheit „von oben“ her, wie er durch alte christlich-religiöse Impulse im Mittelalter vorhanden war, verloren ging. Nun drangen gleichsam „von unten“ all die Triebe und Affekte, die sich aus den Blutzusammenhängen der Nationen ergeben, herauf, wurden bewußt und begannen mit besonderer Liebe als ein vermeintlich Wertvollstes gepflegt und gehätschelt zu werden. Es kam die Zeit des steigenden Gegensatzes, der steigenden Entfremdung der Völker, in der jedes Volk immer ausschließlicher sich und nur sich wollte, in der sich seine ganze Einstellung der Welt gegenüber „national“ färbte. Da wurde, begünstigt durch Wirtschaftsimpulse, wie den die Staaten, d. h. aber in dieser Zeit zugleich die Völker, abschließenden Merkantilismus, der andere zugleich der „Feind“, dessen Gedeih der eigene Verderb war und der geschädigt werden mußte, wollte man selbst vorankommen. Mit dem

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alten Zusammengehörigkeitsbewußtsein der Völker schwanden die moralischen Hemmungen im Verkehr der Staaten, und der Machiavellismus konnte immer allbeherrschender in diese ganzen Beziehungen seinen Einzug halten.

So hat er durch Jahrhunderte gegensätzeverschärfend gewirkt und die aus dem spirituelleren Fühlen einer älteren Zeit stammenden Einheitsimpulse moralisch unterwühlt. Aber nicht genug hiermit. Man kann der inneren Verwandtschaft zwischen Machiavellismus und Nationalismus noch viel weiter nachgehen. Ist nicht aller Nationalismus eng verbunden und verwoben mit dem Element der Phrase und der Lüge, der Selbsttäuschung, überhaupt der Unwahrheit (vor sich selber und vor anderen) im weitesten Sinne ? Und gerade die Unwahrheit im umfassendsten Sinne ist ja das ureigentlichste Element des Machiavellismus (vgl. hierüber im einzelnen meine Schrift „Der Machiavellismus“, Ferdinand Dümmlers Verlagsbuchhandlung, Berlin). Diese Züge des Nationalismus sind so gewiß eine internationale Erscheinung, wie sie tief begründet sind im innersten Wesen des neuzeitlichen wahrheitentfremdeten Nationalismus. Daher mußten sie notwendig überall auftreten und sind überall aufgetreten, seit, um mit Dante zu sprechen, die Menschheit ein „vielköpfiges Ungeheuer“ geworden ist. Dante erblickt in seiner großartigen Apotheose der abendländischen christlichen Einheit, seiner Schrift „de monarchia“, im „Vielsein“ zugleich die „Wurzel des Schlechtseins“, und er deutet damit auf eine tiefe Wahrheit hin, die, richtig verstanden, gerade in der neuzeitlichen Geschichte ihre eklatante Bestätigung findet.

Nationalismus und Machiavellismus gehören zusammen, und dabei den repräsentativen Geistern der Geschichte dasjenige in ihrem Leben und Wirken wie im Kerne schon verbunden in der lebendigen Einheit der Persönlichkeit aufzutreten pflegt, was als weltgeschichtliche Strömungen von ihnen ausgeht oder durch sie machtvoll befördert wird, so wird es als eine bedeutungsvolle Bestätigung dieses Zusammenhanges von Nationalismus und Machiavellismus zu gelten haben, daß beide Strömungen auch schon, und zwar in unlösbarer Verbindung des Lebens, bei Machiavelli, dem berüchtigten Impulsgeber des Machiavellismus um die Wende des 15. und 16. Jahrhunderts auftraten. Machiavelli war bekanntlich nicht nur der Verkünder und Formulierer der nach ihm benannten politischen „Klugheits“lehre, sondern zugleich ein glühender

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Nationalist, von dem stärkste Impulse des italienischen Nationalismus ausgegangen sind, die ihm insbesondere im 19. Jahrhundert eine erneute große Berühmtheit verschafft haben und ihm noch heute einen Ehrenplatz bei seinem Volke sichern.

So haben seit Jahrhunderten die machiavellistischen und die nationalistischen Impulse gewirkt. Die gegenwärtigen Zustände Europas legen Zeugnis davon ab, wohin dieses Wirken führt. Nun wäre es wirklich an der Zeit, den destruktiven Charakter dieser Impulse zu durchschauen. Statt dessen ist die Politik ihrem Wesen nach keine Spur unmachiavellistischer geworden, und die nationalistische Verblendung feiert noch immer in weitestem Umfang ihre Orgien (Brest-Litowsk, Versailles usw.). Wie diese Impulse dem Schwachwerden des Geistes im Laufe der neuzeitlichen Jahrhunderte ihre Stärkung und dem Materialismus ihren Sieg verdanken, so können sie nur durch ein erneuertes umfassendes Geistesleben überwunden werden, das allein den Völkern das Bewußtsein ihrer Einheit zurückzugeben und in lebenswirklicher Gestaltung der sozialen Organismen Einrichtungen zu schaffen vermag, die es den Menschen ermöglichen, über die Erde hin ein gemeinsames Geistesleben und ein ineinander verwachsendes Wirtschaftsleben zu führen, wie dies im Sinne der Idee des dreigliederigen sozialen Organismus liegt.

Auch für das innere Leben der Staaten ist der Machiavellismus zu einem verderblichen Impuls geworden. Hier ist er die „Klugheits“lehre, wie man eine Bevölkerung zum Zwecke egoistischer Machtentfaltung beherrscht. Die Grundvoraussetzung ist dabei stets die von der abgrundtiefen Schlechtigkeit der menschlichen Natur, das Mißtrauen gegen die Menschen, wahrhaft das echte Korrelat zu den egoistischen Herrschaftsabsichten, mit denen ein machiavellistischer Staatslenker an seine Untertanen herantritt. Dieses Mißtrauen in die menschliche Natur ist seither in aller neuzeitlichen Staatsentwicklung ein Fundament gewesen, auf das man aufbaute, was nicht wenig dazu beigetragen hat, daß man immer mehr, nach Ausschaltung des Menschlich-Moralischen, die Staaten zu einem leblos-mechanischen Ding ausgestaltete, das dann naturgemäß auch immer weniger an aktiv-lebendige menschliche Moralität appellierte (vgl. auch hierzu im einzelnen meine obengenannte Schrift). Das Mißtrauen gegen den Menschen und seine ureigenste Natur hat immer mehr um sich gefressen und die Staatsmänner immer ausschließlicher von „Einrichtungen“ und Veranstaltungen aller

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Art, vom Unlebendigen statt vom lebendig-sittlichen Menschen das Heil erwarten lassen. Und allmählich ist dann aus diesem Mißtrauen der Spießerglaube weitester Kreise geworden. Jeder vermeint damit den Beweis seiner eigenen, ach so armen Menschenkenntnis zu erbringen, daß er auf die Schlechtigkeit der Menschennatur hinweist, wobei so oft freilich nur ein unbewußter Schluß von der eigenen Erbärmlichkeit auf das Menschenwesen überhaupt gezogen wird. Hier ist auch einer der Punkte, wo das Proletariat radikal wird umzulernen haben, wo es sich von einem der vielen aus dem „bürgerlichen“ Denken übernommenen Dogmen des Materialismus zu befreien haben wird. Denn gegenwärtig ist auch und ganz besonders das Proletariat von diesem Mißtrauen gegen die menschliche Natur erfüllt, so daß es nicht auf die Einsicht und das gute Wollen des Menschen, sondern lediglich auf abstrakte Institutionen und Zwangsmaßnahmen staatlicher Art seine Hoffnung setzt. Demgegenüber wird eingesehen werden müssen, daß eine wirkliche Gesundung unserer sozialen Verhältnisse nur von den menschlich-moralischen Kräften des Vertrauens von Ich zu Ich ausgehen kann, auf deren Vorhandensein und auf deren Macht in neuer bewußter Art die anthroposophische Geisteswissenschaft hinweist, und die das Fundament bilden, auf dem allein im Sinne des Impulses zur Dreigliederung des sozialen Organismus neue lebensvolle und tragfähige soziale Beziehungen erwachsen können.

[Soziale Zukunft, Heft 8, 1921, Seite 130]