Revolution und Stagnation - Tod der Dreigliederung?

01.10.1999

Die Veröffentlichung uralter Mitschriften von Vorträgen und Diskussionsabenden kann heute leicht wie ein Anachronismus angesehen werden. Zwei neue Bände der Steiner-Gesamtausgabe voller Zündstoff aus der sogenannten »Dreigliederungszeit« sind dennoch geeignet, weit in die Zukunft reichende Taten zu inspirieren - und den Schlaf manch eines Anthroposophen zu stören: Ist die Dreigliederung wirklich gestorben?

In diesen Tagen ist es zehn Jahre her, dass ein revolutionärer Impuls ganz Mittel- und Osteuropa erfasste. Er war imstande, die Regimes sowjetkommunistischer Prägung hinwegzufegen und dem Kalten Krieg ein Ende zu setzen. Ein Blick zurück auf die dramatische »Zeit der Wunder« von 1989, auf Ursachen, Verlauf und Folgen des großen politischen Umbruchs zeigt ähnliche Motive, wie sie schon mindestens zweimal in der europäischen Geschichte dieses Jahrhunderts auftauchten: Die große Hoffnung, das Warten, die Unfähigkeit der Menschen und die bald darauf einsetzende Enttäuschung.

Hinzu gehört auch das Phänomen der Dreigliederung des sozialen Organismus: Dreimal in diesem Jahrhundert, nach dem ersten und zweiten Weltkriege sowie nach dem Ende des Kalten Krieges waren Menschen in Mitteleuropa von dieser Idee überzeugt, dass die drei Bereiche von Wirtschaft, Politik (Rechtsleben) und Kultur (Geistesleben) ihre Autonomie bekommen sollen. Eine Revolution der sozialen Verhältnisse in Europa erwuchs daraus aber nicht. Wie zufällig wirft eine neue Edition zweier Dokumentationsbände aus dem Wirken Steiners in der Dreigliederungszeit 1919-1920 Licht auf Verhaltensmuster und Denkgewohnheiten, die sich im Verlauf der letzten 70 Jahre offenbar wenig geändert haben. Zurückschauend aus dem Jahr 1999, erscheinen die Jahre 1919 und 1989 urplötzlich wie zwei Schwestern, ja, fast wie Zwillinge ...

»Sektenmäßig organisierte Lieblosigkeit«

Wie war es in der Krisenzeit nach dem ersten Weltkrieg für Rudolf Steiner möglich gewesen, sich auf der einen Seite mit aller Kraft für eine Erneuerung des sozialen Organismus einzusetzen und auf der andern Seite die hartnäckigste Abneigung der sogenannten Anthroposophen gegen seine politische Tätigkeit zu ertragen? Zwei neue Bände der Steiner-Gesamtausgabe vermitteln ein wenig Eindruck davon, wie Steiner diese Missstimmung erlebte. Am 3. März .1920, während eines Studienabends des Bundes für Dreigliederung in Stuttgart, führte er aus: Man muss bewegliche Begriffe haben. Das wollen die Leute heute nicht; sie wollen eingeschachtelte Begriffe haben. Sie wollen überhaupt nicht hinausdenken in die Wirklichkeit. Solche Dinge könnten sonst nicht entstehen, daß zum Beispiel die Leute sagen: Anthroposophie gefällt mir ganz gut, aber von der Dreigliederung will ich nichts wissen. Wer so spricht, gleicht ungefähr demjenigen, der sagt: Ja, für das Geistige interessiere ich mich, aber dieses Geistige darf nicht in das Politische übergreifen; dieses Geistige muß unabhängig sein von dem Politischen. Ja, meine lieben Freunde, das will ja gerade die Dreigliederung erreichen. Aber weil das Geistige heute nirgends unabhängig ist, so ist das eine Illusion, wenn Sie glauben, sich nur interessieren zu können für bloß Geistiges. Damit Ihr abstraktes Ideal konkret werden kann, damit Sie etwas haben, wofür Sie sich interessieren können, ohne dass es von Politik beeinflußt ist, muß die Dreigliederung erst ein solches Gebiet erkämpfen, damit ein Gebiet da ist, auf dem man sich nicht für Politik zu interessieren braucht. Die Dreigliederung kämpft gerade für dasjenige, in dem die schläfrigen Seelen sich wohlfühlen wollen, es aber nur als Illusion vor sich haben. Diese schläfrigen Seelen - oh, man möchte sie so gerne aufwecken! - sie fühlen sich so ungeheuer wohl, wenn sie innerlich Mystiker sind, wenn sie die ganze Welt erfassen innerlich, wenn sie den Gott in ihrer eigenen Seele entdecken und dadurch so vollkommene Menschen werden! Aber diese Innerlichkeit hat nur einen Wert, wenn sie heraustritt ins Leben. Ich möchte wissen, ob sie einen Wert hat, wenn jetzt, in der Zeit, wo alles drängt, wo die Welt in Flammen steht, der Mensch nicht den Weg findet, mitzusprechen in den öffentlichen Angelegenheiten. Das ist ein schönes Interesse für Anthroposophie, das sich nur für Anthroposophie interessieren will und nicht einmal die Möglichkeit findet, mitzureden bei dem, wozu Anthroposophie anregen will. Diejenigen Anthroposophen, die sich nur für Anthroposophie interessieren wollen und nicht für das, was aus Anthroposophie werden kann dem Leben gegenüber, die gleichen einem Menschen, der wohltätig ist nur mit dem Munde, aber sonst schnell die Taschen zumacht, wenn er wirklich wohltätig sein sollte. Deshalb ist das, was bei den Leuten zu finden ist, die sich nur in ihrer Art für Anthroposophie interessieren wollen, anthroposophisches Geschwätz. Die Wirklichkeit der Anthroposophie ist aber dasjenige, was in das Leben übergeht.

Noch deutlicher antwortete Steiner am 12. Oktober 1920 in Dornach auf die abstrakte Frage, wer eigentlich in Betracht käme, wenn die Dreigliederung des sozialen Organismus propagiert werden soll. Im Entschluss zur Tat, sagte er, in dem Tun, da liegt die Antwort auf solche unfruchtbare Fragen. Er beschreibt anhand von Beispielen, warum das Wesentliche in der Verwirklichung neuer sozialer Formen liegt, und nicht in theoretischen Abhandlungen. Vor den Versammelten, die nicht alle Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft waren, sagte er dann: Vor allem können wir dasjenige, was der Bund der Dreigliederung des sozialen Organismus ist, von uns aus stärken. Ich meine natürlich mit uns jetzt unterschiedslos alle diejenigen, die hier sitzen, nicht etwa bloß die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft - unter denen sind ja solche, die heute noch immer sagen: dem wirklichen Anthroposophen muss das politische Leben ferneliegen, der kann sich nur mit dem politischen Leben befassen, wenn sein Beruf das notwendig macht. - Das kommt auch vor, solche Egoisten gibt es, und die nennen sich trotzdem Anthroposophen, die glauben, gerade ein besonderes esoterisches Leben zu entwickeln, indem sie sektenmäßig sich zusammensetzen mit einer kleinen Anzahl von Menschen und ihre Seelenwollust befriedigen im Durchdringen mit allerlei Mystik. (Beifall) Meine sehr verehrten Anwesenden, das ist nichts anderes als die sektenmäßig organisierte Lieblosigkeit; das ist bloß Reden von Menschenliebe...

Ganz besondere Mühe hatte Steiner mit der grundsätzlich negativen Haltung vieler sogenannter Anthroposophen, die immer einen Grund fanden, warum es sich nicht lohnt, politisch oder wirtschaftlich-politisch etwas zu unternehmen. Am 15. September 1920 kam er in Stuttgart auch darauf zu sprechen: Und nun die Frage, ob man mit der gegenwärtigen Generation nun wirklich zu einem Aufbau kommen könne: Ich bin in der Dreigliederungszeitung oftmals auf diese Frage zurückgekommen und habe es immer wieder als ein unfruchtbares Denken bezeichnet, derartige Fragen zu stellen. Worauf ich in diesem Zusammenhange etwas gebe, ist der Wille - nicht so sehr die beobachtende Überschau über das, was ist -, sondern, die Befeuerung des Willens. Und wenn ich höre, »mit der gegenwärtigen Generation ist nichts anzufangen«, so muß ich doch voraussetzen, dass die, welche in dieser Weise die gegenwärtige Generation kritisieren, doch der Ansicht sind, mit ihnen selber sei etwas anzufangen. Und da ich mehr auf den Willen gebe als auf die Beobachtung, so rufe ich denen eben zu: Nun, also kommt, dann wollen wir mit euch etwas anfangen! Die Zahl derer, die »mit der gegenwärtigen Generation nichts anfangen können«, würde schon groß genug sein, [um etwas anzufangen]; daher wollen wir diese zusammenrufen und mit ihnen zusammenarbeiten.

Tageszeitung und Weltschulverein

Was mit den Ideen der Dreigliederung damals geschah ist bekannt. Man spricht aber bis heute - vor allem in offiziellen Veröffentlichungen der Anthroposophischen Gesellschaft - noch davon, dass die damaligen Verhältnisse »nicht reif waren« oder dergleichen. Steiner hatte eine ganz andere Meinung dazu. Oft betonte er in diesen Diskussionen, wenn sich die Menschen in der anthroposophischen Gesellschaft wirklich für die Sache der Dreigliederung eingesetzt und weniger theoretisiert hätten, könnten bestimmt große Ziele erreicht werden. Die Anthroposophen und ihre Gesellschaft waren aber schon damals das Problem der Dreigliederungsbewegung. Steiner äußerte sich dazu beispielsweise am 12. Oktober 1920 in Dornach: Was haben wir daher zuallererst nötig? - Vor allen Dingen haben wir nötig, dass die Bewegung für Dreigliederung des sozialen Organismus selber stark und kräftig wird und wirkt und dass sie vor allen Dingen zum Verständnis kommt, was nötig ist. ( .. ) Es ist ja wirklich durch die Zeitverhältnisse und durch die innere Wesenheit der Sache bedingt, und es ist nicht ein Zufall, nicht irgendeine Schrulle von mir oder von ein paar anderen, dass diese Dreigliederungsbewegung aus der Anthroposophischen Gesellschaft herausgewachsen ist. Wäre sie richtig herausgewachsen, ich könnte auch sagen, wäre die Anthroposophische Gesellschaft das Richtige gewesen, aus dem die Dreigliederungsbewegung herausgewachsen ist, dann wäre sie heute schon zu etwas anderem geworden, als sie es ist. Nun, was nicht geschehen ist, kann ja nachgeholt werden.

Im weiteren Verlauf des Abends ging er darauf ein, dass die damals existierende Dreigliederungszeitung die notwendige Abonnentenzahl für ihre Arbeit nicht erreicht hatte - Steiner war jedoch der Auffassung, sie müsse sich unbedingt zu einer Tageszeitung entwickeln! Drei Monate später gab er in einem Mitgliedervortrag als Grund für die geringe Auflage an, dass die allerersten potentiellen Leser, die sogennanten Anthroposophen, sich dafür nicht wirklich interessierten: Ich will eine betrübliche Tatsache hervorheben. Diese Tatsache hat viele Ursachen, aber es würde heute die Zeit nicht ausreichen, alle die einzelnen Ursachen Ihnen zu schildern. Aber das liegt doch vor, dass unsere Zeitschrift für Dreigliederung seit dem Mai um fast keinen einzigen Abonnenten vorwärtsgekommen ist [damals hatte sie ca. 3000 Leser]. Und dabei sind wir eine Gesellschaft, die Tausende und Tausende von Mitgliedern hat. Es ist wirklich recht traurig, dass eine solche Tatsache eben verzeichnet werden muß. Aber, solche Tatsachen sind da, und das ist nur eine derselben. (16. Januar 1921, GA 203)

Eine weitere praktische Initiative Steiners war die Gründung der Waldorfschule, so eng mit der Dreigliederung verbunden wie es gewöhnlich eine Hand mit ihrer Schulter ist. Eine abgetrennte Hand kann heute (dank unserer fortgeschrittenen Medizintechnik) zwar in einer aufwendigen Operation direkt mit dem Rumpf verbunden werden. Ihre Eigenschaften als Hand werden dadurch aber entsprechend gelähmt. Deutlicher äußerte sich Steiner dazu: Wenn diejenigen, die schwärmen für die Ideen der Waldorfschule, nicht einmal soviel Verständnis entwickeln, dass ja dazu gehört, Propaganda zu machen gegen die Abhängigkeit der Schule vom Staat mit allen Kräften dafür einzutreten, dass der Staat diese Schule loslöst, wenn Sie nicht auch den Mut dazu bekommen, die Loslösung der Schule vom Staat anzustreben, dann ist die ganze Waldorfschul-Bewegung für die Katz, denn sie hat nur einen Sinn, wenn sie hineinwächst in ein freies Geistesleben. (12. Oktober 1920)

Die Waldorfschulbewegung hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts, vor allem in den letzten 25 Jahren weit in aller Welt verbreitet. Zu dem, was sich Steiner von ihr erhoffte, eine Grundlage für die Befreiung des Geisteslebens (zunächst in Europa) zu sein, hat sie sich aber (noch?) nicht entwickelt. Waren und sind die Verhältnisse daran (immer noch) schuld?

Theoretische Diskussionen versus Dreigliederung tun

Tiefer in die Motive der mitteleuropäischen Mentalität kann man anhand der wichtigen Ausführungen Steiners am 28. Juni 1920 in Stuttgart eindringen. Es ist bedauerlich, dass diese Informationen erst jetzt, nach 80 Jahren, veröffentlicht werden. Denn ihre Bedeutung für die Dreigliederungsbewegung und speziell für das Verständnis der Denkgewohnheiten von Anthroposophen und nicht-Anthroposophen in Mitteleuropa ist nicht hoch genug einzuschätzen. Steiner schildert nämlich hier die Unterschiede zwischen dem Westen - damit sind die englischsprechenden Länder gemeint - und dem, was man damals Mitteleuropa nannte. Steiner dazu genauer: was man nennen könnte mitteleuropäisches Kulturgebiet. Schon hier sieht man - etwas könnte sein, es ist jedoch offensichtlich nicht geworden.

Mit der Begründung des Deutschen Reiches durch Bismarck, so Steiner, war in Deutschland der Versuch unternommen, ausschliesslich praktisch zu handeln, praktische Politik zu betreiben. Dabei fehlten aber innerhalb dieses Rahmens tragende Ideen, ein wirklicher substantieller Inhalt. Und wenn man nur praktisch handelt, wenn Ideale ausnahmslos verketzert werden, kommt es doch irgendwann zu Krisen, die sich dann zwangsläufig zu Katastrophen entwickeln. Ausführlich beschreibt Steiner eine Krankheit, die sich in dieser Zeit in Deutschland und in Österreich ausbreitete: Während man nur praktisch handeln wollte, theoretisierte man gleichzeitig über Forderungen. und Probleme der Zeit. Aus diesen endlosen Streitereien erwuchsen jedoch keine praktische Lösungen zu den grundlegenden Problemen des sozialen Organismus. Dieser war aber noch von mittelalterlichen Strukturen und Denkgewohnheiten geprägt. Der Ausbruch der Katastrophe war nur eine Frage der Zeit.

Im Westen dagegen, sagt Steiner, handelte man zur gleichen Zeit, als in Mitteleuropa leidenschaftlich theoretische Diskussionen geführt worden waren, aus einer klaren Vision der eigenen Aufgabe heraus. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, diese Aufgabe im Detail zu schildern. Genannt werden muss aber jene Persönlichkeit, die Steiner als Träger dieser Vision, als eine der größten Persönlichkeiten des Westen beschreibt: Cecil Rhodes. Rhodes dient Steiner in diesem Zusammenhang, um zu zeigen, wie im Westen zwei Komponenten wirken, die ihn zur Erfüllung der eigenen Aufgabe führten: Die eine ist das Bewusstsein für die Eigenschaften und Aufgaben, die das englische Volk als Bewohner eines ganz bestimmten Gebiets der Erde hat. Das ist Wirklichkeitssinn, das ist Realitätsgeist, so Steiner. Dass diese Mission den Westens auf einen Eroberungszug großer Teile der Welt gebracht hat, mag unsympathisch erscheinen. Für Steiner war dies aber nicht wesentlich: Ich will nicht über Geschmacksfragen streiten (...), sondern ich will über welthistorische und politische Notwendigkeiten sprechen, über dasjenige, was als Impetus, als Impuls in der englischen Politik wirkte in denselben Jahrzehnten, in denen man in Mitteleuropa so theoretisch diskutiert.

Die andere Komponente der angelsächsischen Politik wächst aus der ersten. Der Wirklichkeitssinn, der die eigene Aufgabe als Leitfaden nie verlieren lässt, bringt die richtigen Menschen - wie Rhodes - an die richtige Stelle. (Steiner: Selbstverständlich, sie waren für uns die Unrechten, aber es war nicht ihre Aufgabe, für uns die Rechten zu sein).

Wie Rhodes und seine Nachfolger die weltpolitische und kulturelle Vorherrschaft des Angelsachsentums fleissig aufgebaut hatten, habe ich nach der Wahl des Rhodes Scholar Bill Clinton zum Präsidenten der USA beschrieben.1 Wichtig ist aber zu sehen, was Rudolf Steiner als die politische Aufgabe der Mitteleuropäer betrachtete, eine praktische Aufgabe, die zur Politik des Westens als eine heilende Balance hinzukommen musste. Denn der Westen kann nur das sein, was er ist. Er kann nicht die Aufgabe derjenigen wahrnehmen, die nur theoretisch diskutieren wollen und die Schuld an allem Übel der Welt den Tätigen anlasten. Steiner im Originalton:

Sehen Sie, heute denken die Leute nach, wie England etwas anderes sein sollte, wie England nicht Eroberungsweltpolitik treiben sollte, wie es »brav« werden sollte. So, wie es sich viele Leute heute bei uns vorstellen, so könnte England nicht mehr England sein; denn dasjenige, was es tut und getan hat, beruht auf seinem ganzen Wesen gerade als Inselreich. Es kann nur dadurch sich weiterentwickeln, dass es dieselbe Politik weiter betreibt. Genau dasselbe ließe sich heute in Bezug auf die USA sagen, obwohl wir hier nicht mit einer Insel zu tun haben. Die Aussenpolitik der USA und Großbritanniens ist in ihrer tieferen Dimension - nicht so sehr in der Tagespolitik, sondern in der langfristigen Zielsetzung ihrer gesamten »Weltstrategie« - seit 1941 praktisch identisch. Insofern handeln die Amerikaner aussenpolitisch aus den gleichen Notwendigkeiten, die damals von Steiner beschrieben wurden.

Als spezifische sozial-politische Aufgabe der Mitteleuropäer sah Steiner in ausserordentlich praktischem Sinne die Einführung der Idee der Dreigliederung in die Politik, in die Wirtschaft und in alle anderen Bereiche in dieser Region der Welt. Denn im Westen haben Politik und Wirtschaft schon eine Vision, die sie zusammenschweisst und über alle Krisen hinaus weiterleitet. Dort kann man eine Gliederung dieser Bereiche nicht ohne weiteres einführen. Wenn aber in Kontinentaleuropa die Dreigliederung verwirklicht würde, so Steiner, wird man dies auch andernorts bemerken und wenn möglich auch tun. Daraus geht auch hervor, stellte er fest, dass die europäische Mitte das Gebiet ist, wo diese Idee unbedingt zunächst Wurzel fassen müsste. Was sich in Mitteleuropa entwickeln musste, konnte zunächst - damals wie heute - nicht in der gleichen Form in einer anderen Region der Erde hochkommen. Was auf einer Stelle versäumt worden ist, muss andernorts ganz andere Formen annehmen.

Tod oder Wiedererweckung?

Ist die Idee der Dreigliederung am Ende des 20. Jahrhundert tot? Soll man jetzt nach ganz anderen Ideen suchen? Sind »die Verhältnisse« nicht mehr günstig - oder sind, sie sogar immer »noch nicht reif«?

Nimmt man Deutschland als Beispiel - das gleiche könnte auch für die Schweiz gelten - lässt sich dazu folgendes sagen: Die Diskussionen zur Innen- und Außenpolitik sind heute so theoretisch und unfruchtbar wie damals. Das Bestreben, allein sachlich, ohne Ideale zu wirken, steuert wie damals nur in neue Problemenzonen. Merkwürdig dabei ist: Hunderttausende Menschen in diesem Land sind nähere oder fernere Verwandte der Waldorfbewegung. Mancher Politiker hat die Waldorfschule sogar selbst besucht oder schickt seine Kinder dahin. Kenner der Anthroposophie sitzen heute in den Chefetagen von Wirtschaft und Politik. Gelder für große Monumente in Millionenhöhe fließen, wenn entsprechende Aufrufe ertönen.

An Ideen und Modellen, was in konkreten Situationen machbar wäre, an Lösungen für grosse und kleine Probleme in allen Bereichen des sozialen Organismus, mangelt es ja nicht. Denn abgesehen von den vielen praktischen Hinweisen, die Steiner schon damals gegeben hat, sind seit 70 Jahren viele begabte Spezialisten zur Dreigliederung intensiv damit beschäftigt, solche Lösungen zu finden und anzubieten. Manche von diesen »Dreigliederern« haben auch in kleinerem oder grösserem Rahmen solche Ideen verwirklicht. Zu einem wirklichen Durchbruch in die öffentliche Diskussion kam es seit Steiners Zeit aber noch nicht. Und heute, in der Zeit der Kommunikation und Demokratie muss man solche Ideen vor die Öffentlichkeit stellen, damit Sie eines Tages akzeptiert werden können.

Was fehlt aber, damit die Dreigliederung, die längst de facto unter der Oberfläche lebt, auch tatsächlich als eine Vision, als eine Zielrichtung in Europa anerkannt wird? Dazu fehlt allein der Mut. Der Mut, aus der Bequemlichkeit des negativen Zuschauers zur Tat überzugehen. Aus den vorhandenen sogenannten anthroposophischen Institutionen wird der Aufruf dazu aber nicht ergehen. Die Neigung dieser Institutionen wurde schon damals von Rudolf Steiner klargenug beschrieben. Der Mut all derjenigen Menschen, und solche gibt es sehr viele auch innerhalb der genannten Institutionen -, die etwas unternehmen wollen, kann nur selbständig entwickelt werden. Wenn eine grosse Zahl von Initiativen entstehen wird, wenn genug Menschen, die diese Idee für gut halten und in Entscheidungspositionen sind, anfangen werden, dafür zu arbeiten, dann wird sich schon etwas - und viel mehr als nur etwas - bewegen.

Politikberatung als Zeitforderung

Man wird an dieser Stelle natürlich fragen: welche konkreten Vorschläge gibt es denn? Wie und was kann ich persönlich anfangen? Konkret zu dieser Frage schlage ich vor, beispielsweise zwei Beratungsstellen zu gründen: Die eine Stelle wird von Fachleuten zu praktischen Fragen der Dreigliederung in innenpolitischen Aspekten geleitet. Ihre Aufgabe wird es sein, Lösungen für jede Situation auszuarbeiten, mit der man sie konfrontieren wird (beispielsweise die Lohnstrukturen in Unternehmen oder das Steuersystem auf kommunaler Ebene). Die Aufgabe der zweiten Beratungsstelle wird es sein, einen »Leitfaden« für eine internationale Politik zu entwickeln, sie in Form von Arbeitspapieren zu verbreiten und sie dialogisch an Entscheidungsträger heranzutragen. Ich meine damit ganz konkrete, bis ins Detail bearbeitete Pläne zur Lösung von Fragen wie etwa dem Verhältnis des EURO zur politischen Europäischen Union oder die Frage der künftigen Grenzen auf dem Balkan oder der Staatsbürgerschaft in Europa. Solche Beratungsstellen gehören natürlich zum Bereich des Geisteslebens und müssen ganz unabhängig sein, das heisst, sie bräuchten jeweils einen Fond, wie dies bei jedem unabhängigen Forschungsinstitut der Fall ist. Geldquellen für solche »Denk-Fabriken« liessen sich in der anthroposophischen Bewegung ohne Mühe finden - wenn der gute Wille dafür vorhanden wäre.

Die Alternative zur Dreigliederung in Europa nimmt mit jedem Tag klarere Konturen an. Sie ist aber keine Verwirklichung einer Vision, sondern ein Rezept für die nächste Katastrophe. Hatte man 1919 noch die Ausrede, diese Idee sei zu neu, um sie zu verstehen und einzuführen, gilt dies für die zehn Jahre seit 1989 nicht mehr. Die Zeit der Diskussionen ist abgelaufen - eigentlich schon seit Mitte des vorigen Jahrhunderts. jetzt werden die Tätigen bestimmen, wie das kommende Jahrhundert aussehen wird. Wer im Jahre 1987 in Deutschland darüber gesprochen hätte, dass der Ostblock innert zwei Jahre zusammenfallen würde, wäre bestenfalls ausgelacht worden. Wer heute praktischer Visionär sein will - und wir brauchen heute viele davon - kann sehen, dass die Möglichkeit einer Dreigliederung des sozialen Organismus in weiten Teilen Mitteleuropas gerade jetzt, hier und heute, durchaus vorhanden ist!

Hauptquelle für diesen Artikel sind die zwei neu erschienenen Bande der Rudolf Steiner Gesamtausgabe: Soziale Ideen, Soziale Wirklichkeit, Soziale Praxis, GA 337a und 337b, Dornach 1999, DM 72,- und DM 68,-. Die Herausgeber, Alexander Lüscher und Ulla Trapp, leisteten eine großartige Arbeit allein mit den 186 Seiten Hinweise und Kommentare. Ein Personenregister und ausführliche Geleitworte, die die damalige Lage beleuchten, runden die Bande ab.

1. Die Artikel sind in meinem Buch Im Namen der »Neuen Weltordnung«, Dornach 1994, enthalten.

Redaktion Kontemporär Amnon Reuveni, Hügelweg 24, CH-4143 Dornach, Tel./Fax 0041-7021841 oder Tel. 0041-61-7021875


Quelle: Info3, 10/1999, S.15-19