Nachsitzen kann keine Strafe für Schüler sein

Quelle: GA 311, S. 058-060, 5. Ausgabe 1989, 14.08.1924, Torquay (GB)

So wie man wirklich aus der Natur des Menschen heraus erzieht und unterrichtet, muß nun dem Unterricht, wie ich ihn eben dargestellt habe, die Erziehung in bezug auf moralische Qualitäten parallel gehen. Ich möchte da zum Schluß noch einzelnes hinzufügen. Auch da handelt es sich darum, daß man aus der Natur des Kindes abliest, wie man es zu behandeln hat. Wenn man dem Kinde schon mit sieben Jahren den Ursachen- und Wirkungsbegriff beibringt, handelt man gegen die Entwickelung der menschlichen Natur. Wenn man aber das Kind durch gewisse Dinge strafen will, so handelt man oftmals mit gewissen Strafen auch gegen die Entwickelung der menschlichen Wesenheit.

In der Waldorfschule konnten wir dabei ganz schöne Erfahrungen machen. Wie wird in gewöhnlichen Schulen oftmals gestraft? Kinder haben in der Stunde etwas nicht ordentlich gemacht, man läßt sie nachsitzen, und sie müssen zum Beispiel Rechnungen machen. Da hat sich in der Waldorfschule etwas Sonderbares herausgestellt mit drei oder vier Kindern, denen man gesagt hatte: Ihr wart unordentlich, ihr müßt nachsitzen und Rechnungen machen! - Da sagten die anderen: Da wollen wir aber auch dableiben und Rechnungen machen! - Denn sie sind so erzogen, daß das Rechnungenmachen etwas Gutes ist, nicht etwas, womit man bestraft wird. Man soll beim Kinde gar nicht die Meinung hervorrufen, daß Rechnungenmachen im Nachsitzen etwas Schlimmes ist. Deshalb wollte die ganze Klasse auch dableiben und nachsitzen und Rechnungen machen. Man soll also nicht Dinge wählen, die gar nicht eine Strafe darstellen können, wenn das Kind im geraden Seelenleben erzogen werden soll.

Oder ein anderes Beispiel: Dr. Stein, ein Lehrer in der Waldorfschule, hat sich manches sehr Gute, manchmal im Momente ausgesonnen in bezug auf die Erziehung. Er bemerkte einmal, daß seine Schüler sich unter der Bank Briefchen zureichten. Sie schrieben sich Briefe, gaben also nicht acht, und steckten die Briefe unter der Bank dem Nachbarn zu, und der wieder die Antwort zurück. Nun hat Dr. Stein nicht angefangen zu schimpfen über das Briefeschreiben und gesagt: Ich will euch bestrafen! - oder so etwas, sondern er hat ganz plötzlich angefangen, einen Vortrag über das Postwesen zu halten. Die Kinder waren frappiert, daß plötzlich über das Postwesen gesprochen wurde; aber sie sind dann doch darauf gekommen, weshalb über das Postwesen gesprochen wurde. Und diese feine Art, Übergänge zu finden, die beschämt dann. Die Kinder waren beschämt, und das Briefeschreiben hat aufgehört, einfach wegen der Gedanken, die er eingeflochten hat über das Postwesen.

Und so muß man Erfindungsgabe haben, wenn man eine Klasse leiten will. Man muß nicht stereotyp durchaus auf dasjenige gehen, was so hergebracht ist, sondern man muß sich tatsächlich in das ganze Wesen des Kindes hineinversetzen können und wissen, daß eine Besserung - und mit der Strafe will man ja schließlich eine Besserung - unter Umständen viel eher eintritt, wenn auf diese Weise eine Beschämung hervorgerufen wird, aber ohne daß man sich an den Einzelnen wendet, daß das ganz unvermerkt vor sich geht, als wenn man im groben Sinne straft. Gerade auf diese Weise, wenn man mit einem gewissen Geist in der Klasse drinnen steht, richtet sich so manches ein, was sonst gar nicht ins Gleichgewicht zu bringen ist.