Kultus statt Sprache und Erinnerung - Gespräch statt Blut

Quelle: GA 257, S. 109-119, 4. Ausgabe 1989, 27.02.1923, Stuttgart

Gemeinschaftsbildung! Es ist vor allen Dingen im höchsten Grade merkwürdig, daß das Ideal der Gemeinschaftsbildung ganz besonders in unserer Gegenwart auftritt. Aus einer elementarischen, aus einer tiefen Empfindung vieler Menschenseelen heraus ergibt sich heute das Ideal der Gemeinschaftsbildung, eines ganz bestimmten Verhältnisses von Mensch zu Mensch mit dem Impuls des Zusammenwirkens. Als vor einiger Zeit eine Anzahl jüngerer Theologen zu mir kam, die auf dem Wege nach dem Seelsorgerberufe waren, da war vor allen Dingen der Impuls in ihnen nach einer religiösen Erneuerung, nach einer solchen religiösen Erneuerung, die durchströmt wird von der wirklichen Christus-Kraft, einer religiösen Erneuerung, die viele Menschenseelen der Gegenwart so ergreifen kann, wie sie ergriffen sein wollen, wie sie aber nicht ergriffen werden können innerhalb der traditionellen religiösen Bekenntnisse der Gegenwart. Und ich mußte ein Wort aussprechen, auf das mir außerordentlich viel anzukommen scheint bei der Entwickelung dieser religiösen Erneuerungsströmung, ich mußte das Wort aussprechen: Es muß in rechtem Sinne gesucht werden nach Gemeinschaftsbildung, nach einem Elemente im religiösen und Seelsorgerwirken, das Menschen an Menschen bindet. - Und ich sagte zu den Freunden, die zu mir gekommen sind: Mit abstrakten Worten, mit der Predigt im gewöhnlichen Sinne, mit den spärlichen gottesdienstlichen Handlungen, die vielfach heute noch übriggeblieben sind in dem oder jenem Bekenntnisse, kann man nicht gemeinschaftsbildend auf religiösem Boden wirken. - Dasjenige, was auch in dem Religiösen immer mehr und mehr nach dem Intellektualistischen sich hinbewegt, hat bewirkt, daß wahrhaft eine nicht geringe Anzahl heutiger Predigten ganz und gar durchsetzt von einem rationalistischen, intellektualistischen Element ist. Durch dasjenige, was heute so an die Menschen herankommt, werden diese nicht zusammengebunden, sondern im Gegenteil vereinzelt, ihre soziale Gemeinschaft wird atomisiert. Und das muß begreiflich erscheinen dem, der ja weiß: das Rationelle, das Intellektuelle, das kann ich mir erwerben als einzelne menschliche Individualität.[]

Ich kann mir, wenn ich nur eine bestimmte Bildungsstufe in meiner individuellen menschlichen Entwickelung erreicht habe, ohne mich anzulehnen an andere Menschen, das Intellektualistische erwerben und kann es in mir immer weiter und weiter vervollkommnen. Denken kann man allein, Logik treiben kann man allein, und man wird es sogar vielleicht um so vollkommener tun, je mehr man es allein tut. Man hat sogar das Bedürfnis, möglichst sich zurückzuziehen von der Welt, auch von der Welt der Menschen, wenn man in rein logischem Denken verharrt. Aber der Mensch ist zu solcher Einsamkeit denn doch nicht allein veranlagt. Und wenn ich mich heute bemühen will, in bildhafter, nicht intellektualistischer Weise dasjenige zu verdeutlichen, was in den Tiefen der Menschenherzen nach Gemeinschaftsleben sucht, so muß das aus dem Grunde geschehen, weil wir im Übergange zu der Ausbildung der Bewußtseinsseele in der menschlichen Natur leben, weil unser Leben immer bewußter und bewußter werden muß. Bewußter werden heißt nicht intellektualistischer werden. Bewußter werden heißt, man kann nicht mehr beim bloß instinktiven Erleben stehenbleiben. Aber gerade auf anthroposophischem Boden muß versucht werden, dasjenige, was in bewußte Klarheit heraufgehoben wird, dennoch in vollem elementarischem Leben, ich möchte sagen in einem Leben, das gleichgeartet ist für menschliches Empfinden dem naiven Wahrnehmen und Empfinden, darzustellen. Das muß gelingen. Nun gibt es eine Art von Gemeinschaft im menschlichen Leben, die für alle offenkundig ist, die über den ganzen Erdball hin zeigt, daß die Menschheit auf Gemeinschaft angelegt ist. Eine Gemeinschaft, auf die auch im heutigen Kultur-, ja politischen und wirtschaftlichen Leben überall, und zwar zumeist in einer sehr schädlichen Weise hingewiesen wird, von der man aber lernen kann, wenn auch in primitiver Weise.

Das Kind in den ersten Lebensjahren wird in eine menschliche Gemeinschaft hineingeführt, die eine reale, konkrete menschliche ist, ohne die es nicht leben kann. Es ist die Gemeinschaft der menschlichen Sprache. In der Sprache haben wir, ich möchte sagen, die uns von der Natur vor das Seelenauge gestellte Gemeinschaftsform. Durch die Sprache, insbesondere durch die Muttersprache, die sich dem menschlichen Gesamtwesen einimpft in der Zeit, da noch der kindliche Ätherleib [] ungeboren ist, wird das erste Gemeinschaftsbildende an den Menschen herangebracht. Und es ist nur Schuld unseres rationalistischen Zeitalters, daß man zwar in agitatorisch-politischer Weise heute die Sprachen der Völker empfindet und die Volkstümer nach den Sprachen empfindet, daß man aber gar nicht die tiefen, intimen Seelenkonfigurationen, die ungeheuren Schicksalswerte und Karmawerte, die an die Sprache und ihren Genius gebunden sind, beachtet als die natürliche Grundlage des Schreiens des Menschen aus seiner Naturanlage heraus nach Gemeinschaft. Was wären wir, wenn wir aneinander vorbeigehen müßten, ohne daß wir das gleiche Seelenleben ertönend finden in einem gleichlautenden Worte bei einem andern, in einem Worte, in das auch wir hineinlegen können dieses unser eigenes Seelenleben? Und wir brauchen ein jeder nur ein wenig Selbsterkenntnis zu üben, so werden wir das erreichen können, was ich hier der Kürze der Zeit willen nicht entwickeln kann, eine Überschau über alles dasjenige, was wir für eine erste primitivste menschliche Gemeinschaftsbildung der Sprache verdanken.

Aber es gibt etwas Tieferes noch, wenn auch zwar seltener im Leben Auftretendes als die menschliche Sprache. Die menschliche Sprache ist wohl etwas, was auf einem gewissen äußeren Niveau die Menschen zum Gemeinschaftsleben bindet; aber nicht ganz tief in die intimsten Untergründe des Seelenlebens dringt. Für das irdische Leben merken wir in gewissen Momenten noch etwas anderes Gemeinschaftsbildendes als die Sprache, etwas über die Sprache Hinausgehendes. Und das empfindet derjenige, welcher mit andern Menschen, die er als Kinder schon gekannt, einmal, wenn das Schicksal es fügt, sich im späteren Leben zusammenfindet. Denken wir uns den idealen Fall, daß jemand durch das Schicksal sich zusammenfinden konnte mit drei, vier, fünf Jugendgenossen, Kindheitsgenossen im späteren Lebensalter, vielleicht im vierzigsten, fünfzigsten Lebensjahre, mit Genossen, mit denen er nicht beisammen war durch Jahrzehnte, mit denen er aber vielleicht die Zeit durchlebt hat, die zwischen dem zehnten und zwanzigsten Lebensjahre liegt. Nehmen wir gute menschliche Beziehungen, fruchtbare menschliche Beziehungen, liebedurchtränkte menschliche Beziehungen zwischen diesen Menschen und versetzen wir uns im Geiste in [] den Gedanken, was es bedeutet, wenn solche Menschen nun gemeinsam ihre Seelen gegenseitig berührt werden lassen von den Erinnerungen an jene Zeit, die sie in der Kindheit miteinander durchlebt haben. Erinnerung liegt tiefer als alles dasjenige, was auf dem Niveau der Sprache liegt. Und die Seelen klingen intimer zusammen, wenn die reine seelische Sprache der Erinnerungen Mensch an Mensch binden kann, wenn auch vielleicht nur zu kurzer Gemeinschaft. Und es sind gewiß nicht - derjenige, der Erlebnisse auf diesem Gebiete hat, kann das wissen -, es sind gewiß nicht bloß die einzelnen Tatsachen, die man aus der Erinnerung hervorruft und die von Seele zu Seele hinschlagen, wenn jenes ungeheuer Intime, Tiefe in den Seelen der Menschen auftritt, das in einem solchen Idealfall auftreten könnte, wie ich ihn eben konstruiert habe. Es ist etwas ganz anderes. Es ist nicht der konkrete Inhalt der Erinnerungsgedanken, es ist ein ganz unbestimmtes und doch wieder so bestimmtes Erleben, gemeinschaftliches Erleben in diesen menschlichen Seelen, es ist ein Wiederauferstehen desjenigen, mit dem man einmal zusammen war in hundertfältigen Einzelheiten, die aber zu einer Totalität zusammenschmelzen, und es ist alles dasjenige, was von der andern Seele kommt an Miterinnerung, das Erweckende für ein Totalerlebnis.

Das ist so für das irdische Leben. Und aus einer Verfolgung dieser seelischen Tatsache in das Geistige hinein mußte ich dazumal jenen theologischen Freunden, welche mit der gekennzeichneten Absicht zu mir gekommen sind, sagen: Wenn wirkliche Gemeinschaftsbildung bei der Arbeit in der religiösen Erneuerung auftreten soll, dann braucht man einen für die Gegenwart anwendbaren und abgestimmten Kultus. Das gemeinsame Erleben des Kultus, das gibt etwas, was in der Menschenseele die Gemeinschaftsempfindung einfach durch seine eigene Wesenheit hervorruft. Und die Bewegung für religiöse Erneuerung hat verstanden, sie hat diesen Kultus angenommen, und ich glaube, es war ein gewichtiges Wort, das in diesen Tagen hier von dieser Stelle aus Dr. Rittelmeyer gesagt hat: Von dieser Seite der Gemeinschaftsbildung erwächst vielleicht eine der größten Gefahren für die anthroposophische Bewegung von seiten der Bewegung für religiöse Erneuerung her. Denn in diesem Kultus liegt ein ungeheuer bedeutsames Element der Gemeindebildung. Er bindet Mensch an Mensch. Ja, was ist denn an [] diesem Kultus, was da Mensch an Mensch bindet, was aus den einzelnen, die atomisiert worden sind durch das Intellektualistische, Logische, wiederum Gemeinde machen kann, und ganz sicher Gemeinde machen wird? Das hat offenbar Dr. Rittelmeyer gemeint; da ist vorhanden das Mittel für die Gemeindebildung. Da aber auch die Anthroposophische Gesellschaft nach Gemeinschaftsbildung hintendiert, so wird sie finden müssen das für sie geartete Mittel, wenn ihr nicht von der Bewegung für religiöse Erneuerung eine gewisse Gefahr drohen soll.

Nun, was ist das Geheimnis des Gemeinschaftserzeugenden im Wesen des Kultus, wie er namentlich gerade mit diesem Ziele für die Bewegung für religiöse Erneuerung gefunden worden ist? Dasjenige, was sich in den Kultformen, seien sie nun gegeben in der Zeremonie, seien sie gegeben im Worte, ausspricht, das ist ein Abbild von wirklichen Erlebnissen; allerdings nicht von wirklichen Erlebnissen, die hier auf der Erde durchgemacht worden sind, sondern von wirklichen Erlebnissen in jener Welt, die der Mensch in seinem vorirdischen Dasein durchmacht, wenn er auf dem zweiten Teile des Weges zwischen dem Tode und einer neuen Geburt ist, aus jener Welt, die der Mensch durchschreitet von jenem Zeitpunkte, der da liegt in der Mitternachtsstunde des menschlichen Daseins zwischen dem Tode und einer neuen Geburt bis zum Herabsteigen zum Erdenleben. In dem Gebiete, das da der Mensch durchmacht, liegt die Welt, liegen die Ereignisse, liegen die Wesenhaftigkeiten, die ein wirkliches Abbild finden in den echten, wahren Kultformen. Was empfindet daher derjenige, der den Kultus miterlebt, mit dem andern, mit dem er von irgendeinem Karma zusammengeführt wird - und das Karma ist so verwickelt, daß man durchaus überall Karma voraussetzen darf, wo wir mit Menschen zusammengeführt werden? Gemeinsame Erinnerungen an das vorirdische Dasein erlebt er mit ihm zusammen. Das taucht in den unterbewußten Tiefen der Seele auf. Wir haben, bevor wir zur Erde heruntergestiegen sind, zusammen eine Welt durchlebt, die hier im Kultus vor unserer Seele auf Erden steht. Das ist eine mächtige Bindung, das ist ein wirkliches Hereinholen nicht nur der Bilder, sondern der Kräfte der übersinnlichen Welt in die sinnliche. Das ist aber ein Hereinholen derjenigen Kräfte aus der übersinnlichen Welt in die Sinnliche, die den Menschen [] intim angehen, die verbunden sind mit den intimsten Hintergründen der menschlichen Seele. Deshalb bindet Kultus, weil im Kultus heruntergetragen ist aus den geistigen Welten dasjenige, was Kräfte dieser geistigen Welten sind, weil der Mensch das in seinem Erdenleben vor sich hat, was überirdisch ist. Nicht hat er es vor sich in dem rationalistischen Worte, das das Vergessen an die geistige Welt bewirkt, auch in den unterbewußten Seelengründen, sondern er hat es vor sich in dem lebendigen Bild, das kraftdurchsetzt ist, das nicht bloß Sinnbild, das nicht totes Bild, das Kraftträger ist, weil er dasjenige vor sich hat, was zu seiner geistigen Umgebung gehört, wenn er nicht im irdischen Leibe ist. Eine umfassende, ins Geistige hinüberzielende gemeinsame Erinnerung, das ist es, was die gemeinschaftsbildende Kraft des Kultus ist.

Eine solche Kraft braucht auch die Anthroposophische Gesellschaft, damit in ihr Gemeinschaftswesen auftauchen kann. Aber anders geartet kann der Grund zur Gemeinschaftsbildung in der anthroposophischen Bewegung sein als in der Bewegung für religiöse Erneuerung, obwohl das eine das andere nicht ausschließt, sondern das eine mit dem andern in der schönsten Harmonie stehen kann, wenn die Beziehung empfindungsgemäß richtig verstanden wird. Aber es muß eben auch erst verstanden werden, wie ein anderes gemeinschaftsbildendes Element in das menschliche Leben hereintreten kann. Eine ins Geistige umgesetzte Erinnerung strahlt uns entgegen aus der Kultgestaltung. Die Kultgestaltung spricht zu Tieferem als dem menschlichen Intellekt, die Kultgestaltung spricht zu dem menschlichen Gemüte, denn das menschliche Gemüt versteht im Grunde genommen die Sprache des Geistigen, obwohl für dieses Erdenleben zunächst diese Sprache des Geistigen nicht ins unmittelbare Bewußtsein hereintritt. Und nun, um das andere Element, das eine entsprechende Rolle spielen muß in der Anthroposophischen Gesellschaft, zu verstehen, ist vor allen Dingen notwendig, daß Sie nicht nur nach dem Geheimnis der Sprache und der Erinnerung mit Bezug auf das Wesen der Gemeinschaftsbildung hinschauen, sondern daß Sie noch auf etwas anderes hinschauen im menschlichen Leben. Nehmen Sie den Zustand des träumenden Menschen und vergleichen Sie diesen Zustand des träumenden Menschen mit dem vollwachen Menschen im Tagesleben. []

Die Welt des Traumes, sie mag schön, sie mag großartig, sie mag bilderreich, vielbedeutend und vieldeutig sein, aber sie ist eine Welt, die für das irdische Leben den Menschen isoliert. Mit der Welt seiner Träume ist der Mensch allein. Da liegt der eine Mensch, schläft und träumt, andere sind um ihn herum, meinetwillen schlafend oder wachend, die Welten, die in ihren Seelen sind, sie haben zunächst für dasjenige, was er im Traumbewußtsein erlebt, sie haben mit seinem Traumbewußtsein nichts zu tun. Der Mensch isoliert sich in seiner Traumwelt, noch mehr in seiner Schlafenswelt. Wachen wir auf, leben wir uns hinein in ein gewisses Gemeinschaftsleben. Der Raum, in dem wir sind, in dem der andere ist, die Empfindung, die Vorstellung dieses Raumes, die er hat, haben wir selber auch. Wir erwachen an unserer Umgebung in einem gewissen Umfange zu demselben inneren Seelenleben, wie er erwacht. Indem wir aus der Isoliertheit des Traumes erwachen, erwachen wir bis zu einem gewissen Grade in menschliche Gemeinschaft hinein einfach durch dieses Wesen unserer Beziehung als Mensch zur Außenwelt. Wir hören auf, so entschieden in uns selbst, so eingesponnen und eingekapselt zu sein, wie wir in der Traumwelt eingesponnen und eingekapselt waren, auch wenn wir noch so schön, so großartig, so vielbedeutend und vieldeutig träumen. Aber, wie wachen wir auf? Wir wachen auf an der äußeren Welt, wir wachen auf an dem Lichte, wachen auf an dem Ton, an den Wärmeerscheinungen, an allem übrigen Inhalte der Sinneswelt, wir wachen aber eigentlich auch - wenigstens für das gewöhnliche alltägliche Leben - an dem Äußeren der andern Menschen auf, an der Naturseite der andern Menschen. Wir wachen für das alltägliche Leben an der natürlichen Welt auf. Diese weckt uns auf, diese versetzt uns aus der Isoliertheit in ein gewisses Gemeinschaftsleben. Wir wachen noch nicht auf - und das ist das Geheimnis des alltäglichen Lebens - als Mensch am Menschen, am tiefsten Inneren des Menschen. Wir wachen auf am Lichte, wir wachen auf am Ton, wir wachen auf vielleicht an der Sprache, die der andere zu uns spricht als zugehörig zum Natürlichen am Menschen, wir wachen auf an den Worten, die er von innen nach außen spricht. Wir wachen nicht auf an dem, was in den Tiefen der Menschenseele des andern vor sich geht. Wir wachen auf an dem Natürlichen des andern Menschen, wir wachen [] in dem gewöhnlichen alltäglichen Leben nicht auf an dem Geistig-Seelischen des andern Menschen.

Das ist ein drittes Erwachen oder wenigstens ein dritter Zustand des Seelenlebens. Aus dem ersten erwachen wir in den zweiten hinein durch den Ruf der Natur. Aus dem zweiten erwachen wir in den dritten Zustand hinein durch den Ruf des Geistig-Seelischen am andern Menschen. Aber wir müssen diesen Ruf erst vernehmen. Genau so, wie man in der rechten Weise für das alltägliche Erdenleben aufwacht durch die äußere Natur, gibt es ein höherstufiges Aufwachen, wenn wir in der richtigen Weise an dem Seelisch-Geistigen unseres Mitmenschen aufwachen, wenn wir ebenso in uns fühlen lernen das Geistig-Seelische des Mitmenschen, wie wir fühlen in unserem Seelenleben beim gewöhnlichen Aufwachen das Licht und den Ton. Wir mögen noch so schöne Bilder in der Isoliertheit des Traumes schauen, wir mögen außerordentlich Großartiges erleben in diesem isolierten Traumbewußtsein, lesen zum Beispiel werden wir kaum zunächst, wenn nicht besonders abnorme Zustände folgen. Diese Beziehung zur Außenwelt haben wir nicht. Nun, wir mögen noch so schöne Ideen aufnehmen aus der Anthroposophie, aus dieser Kunde von einer geistigen Welt, wir mögen theoretisch durchdringen alles dasjenige, was von uns vom Äther-, Astralleib und so weiter gesagt werden kann, wir verstehen dadurch noch nicht die geistige Welt. Wir beginnen das erste Verständnis für die geistige Welt erst zu entwickeln, wenn wir am Seelisch-Geistigen des andern Menschen erwachen. Dann beginnt erst das wirkliche Verständnis für die Anthroposophie. Ja, es obliegt uns auszugehen von jenem Zustande für das wirkliche Verständnis der Anthroposophie, den man nennen kann: Erwachen des Menschen an dem Geistig-Seelischen des andern Menschen. Die Kraft zu diesem Erwachen, sie kann dadurch erzeugt werden, daß in einer Menschengemeinschaft spiritueller Idealismus gepflanzt wird. Man redet ja heute viel von Idealismus. Aber Idealismus ist heute innerhalb unserer Gegenwartskultur und Zivilisation etwas ziemlich Fadenscheiniges. Denn der wirkliche Idealismus ist nur vorhanden, wenn der Mensch sich bewußt werden kann, daß er genau ebenso, wie er, indem er die Kultusform hinstellt, eine geistige Welt ins Irdische [] hinunterhebt, er etwas, das er im Irdischen erschaut, im Irdischen erkennen und verstehen gelernt hat, in das Übersinnlich-Geistige hinaufhebt, indem er es ins Ideal erhebt. In das kraftdurchsetzte Bild bringen wir das Überirdische, wenn wir die Kultusgestalt zelebrieren. In das Übersinnliche heben wir uns mit unserem Seelenleben hinauf, wenn wir dasjenige, was wir erleben in der physischen Welt, spirituell-idealistisch so erleben, daß wir es empfinden lernen als erlebt im Übersinnlichen, wenn wir so empfinden lernen, daß wir uns sagen: Dasjenige, was du hier in der Welt der Sinne wahrgenommen hast, wird plötzlich lebendig, wenn du es zum Ideal erhebst. Es wird lebendig, wenn du es in der richtigen Weise durchdringst mit Gemüt und Willensimpuls. Wenn du dein ganzes Inneres vom Willen durchstrahlst, Begeisterung auf es wendest, dann gehst du mit deiner sinnlichen Erfahrung, indem du sie idealisierst, den entgegengesetzten Weg, wie du ihn gehst, wenn du das Übersinnliche in die Kultusgestalt hineingeheimnißt. Denn, haben wir eine kleine, haben wir eine große anthroposophische Gemeinschaft, so können wir dasjenige, was in dieser Charakteristik gegeben ist, in einem gewissen Sinne erreichen. Wir können es dann erreichen, wenn wir tatsächlich imstande sind, durch die lebendige Kraft, die wir hineinlegen in die Gestaltung der Ideen vom Geistigen, etwas von einem Erweckenden zu erleben, etwas von dem, was nicht bloß das sinnlich Erlebte so idealisiert, daß das Ideal ein abstrakter Gedanke ist, sondern so, daß das Ideal ein höheres Leben gewinnt, indem wir uns in es hineinleben, daß es das Gegenbild des Kultus wird, nämlich das Sinnliche ins Übersinnliche hinauferhoben. Das können wir auf gefühlsmäßige Weise erreichen, wenn wir uns angelegen sein lassen, überall dort, wo wir Anthroposophisches pflegen, diese Pflege von durchgeistigter Empfindung zu durchdringen, wenn wir verstehen, schon die Türe, schon die Pforte zu dem Raum - und mag er sonst ein noch so profaner sein, er wird geheiligt durch gemeinsame anthroposophische Lektüre - als etwas zu empfinden, was wir mit Ehrerbietung übertreten. Und die Empfindung müssen wir hervorrufen können, daß das in jedem einzelnen der Fall ist, der sich mit uns vereinigt zu gemeinsamem Aufnehmen anthroposophischen Lebens. Und das müssen wir nicht nur zu innerster abstrakter Überzeugung bringen können, [] sondern zu innerem Erleben, so daß in einem Raume, wo wir Anthroposophie treiben, wir nicht nur dasitzen als so und so viele Menschen, die aufnehmen das Gehörte, oder aufnehmen das Gelesene und es in ihre Gedanken verwandeln, sondern daß durch den ganzen Prozeß des Aufnehmens anthroposophischer Ideen ein wirkliches real-geistiges Wesen anwesend wird in dem Raume, in dem wir Anthroposophie treiben. Wie in den in der sinnlichen Welt sich abspielenden Kultformen die göttlichen Kräfte auf sinnliche Art anwesend sind, müssen wir lernen mit unseren Seelen, mit unseren Herzen durch unsere innere Seelenverfassung übersinnlich anwesend sein zu lassen eine wirkliche Geistwesenheit in dem Raume, in dem das anthroposophische Wort ertönt, und unsere Rede, unser Empfinden, unser Denken, unsere Willensimpulse müssen wir einrichten können im spirituellen Sinne, das heißt nicht in irgendeinem abstrakten Sinne, sondern in dem Sinne, daß wir uns so fühlen, als schaute herunter auf uns und hörte uns an ein Wesen, das über uns schwebt, das real-geistig da ist. Geistige Gegenwart, übersinnliche Gegenwart müssen wir empfinden, die dadurch da ist, daß wir Anthroposophie treiben. Dann fängt die einzelne anthroposophische Wirksamkeit an, ein Realisieren des Übersinnlichen selbst zu werden.

Gehen Sie in die primitiven Gemeinschaften, da gibt es noch etwas anderes als bloß die Sprache. Die Sprache ist dasjenige, was im oberen Menschen sitzt. Fassen Sie den ganzen Menschen ins Auge, so finden Sie in primitiven Menschengemeinschaften dasjenige, was Mensch an Mensch bindet, in dem gemeinschaftlichen Blute. Die Blutsbande halten die Menschen zur Gemeinschaft zusammen. Aber in dem Blute lebt das als Gruppenseele oder als Gruppengeist, was bei einer freien Menschheit sich nicht in derselben Weise findet. In eine Gruppe von Menschen, die durch Blutsbande zusammengebunden war, war eingezogen ein gemeinsames Geistiges, gewissermaßen von unten herauf. Da, wo gemeinsames Blut durch die Adern einer Anzahl von Menschen strömt, ist ein Gruppengeist vorhanden. So kann auch durch dasjenige, was wir gemeinsam erleben, indem wir gemeinsam Anthroposophisches aufnehmen, zwar nicht ein solcher Gruppengeist durch das Blut, aber doch ein realer Gemeinschaftsgeist herangezogen werden. Vermögen [] wir diesen zu empfinden, dann binden wir uns als Menschen zu wahren Gemeinschaften zusammen. Wir müssen einfach Anthroposophie wahr machen, wahr machen dadurch, daß wir ein Bewußtsein hervorzurufen verstehen in unseren anthroposophischen Gemeinschaften, daß, indem die Menschen sich finden zu gemeinsamer anthroposophischer Arbeit, der Mensch am Geistig-Seelischen des andern Menschen erst erwacht. Die Menschen erwachen aneinander, und indem sie sich immer wieder und wiederum finden, erwachen sie, indem jeder in der Zwischenzeit ein anderes durchgemacht hat und etwas weitergekommen ist, in einem gewandelten Zustand aneinander. Das Erwachen ist ein Erwachen in Sprossen und Sprießen. Und wenn Sie erst die Möglichkeit gefunden haben, daß Menschenseelen an Menschenseelen und Menschengeister an Menschengeistern erwachen, daß Sie hingehen in die anthroposophischen Gemeinschaften mit dem lebendigen Bewußtsein: Da werden wir erst zu so wachen Menschen, daß wir da erst Anthroposophie verstehen miteinander, und wenn Sie dann auf Grundlage dieses Verständnisses in eine erwachte Seele - nicht in die für das höhere Dasein schlafende Seele des Alltags - die anthroposophischen Ideen aufnehmen, dann senkt sich über Ihre Arbeitsstätte herunter die gemeinsame reale Geistigkeit. Ist es denn Wahrheit, wenn wir von der übersinnlichen Welt reden und nicht imstande sind, uns aufzuschwingen zum Erfassen solcher realen Geistigkeit, solches umgekehrten Kultus? Erst dann stehen wir wirklich im Ergreifen, im Erfassen des Spirituellen drinnen, wenn wir nicht nur die Idee dieses Spirituellen abstrakt haben und etwa sie theoretisch wiedergeben können, auch für uns selbst theoretisch wiedergeben können, sondern wenn wir glauben können, aber glauben auf Grundlage eines beweisenden Glaubens, daß Geister im geistigen Erfassen geistige Gemeinschaft mit uns haben. Sie können nicht durch äußere Einrichtungen die anthroposophische Gemeinschaftsbildung hervorrufen. Sie müssen sie hervorrufen aus den tiefsten Quellen des menschlichen Bewußtseins selbst.