Stummheit der eigenen Kinder kann keine Strafe sein

Quelle: GA 348, S. 266-268, 4. Ausgabe 1997, 20.01.1923, Dornach

Es sind Fragen darüber gestellt, wie es kommen könne, daß in einer Familie vier stumme Kinder neben sprechenden, normalen Kindern geboren werden konnten. Der Vater der Kinder habe in seiner Jugend Vögeln die Zunge ausgerissen; ob das die Strafe dafür sein könne, daß er nun die vier stummen Kinder habe. [...]

Dr. Steiner: Sind die Kinder, die nicht reden können, in dieser Familie hintereinander geboren, oder die andern dazwischen?

Fragesteller: Ja, die Kinder, die nicht reden können, sind hintereinander geboren.

Dr. Steiner: Es ist eben schwer, über einen solchen Fall zu reden, wenn man ihn nicht ganz genau kennt. [...] Es hängt sehr viel davon ab, ob zum Beispiel ein redendes Kind zwischen stummen Kindern geboren worden ist, oder ob von einem bestimmten Zeitpunkt ab zuerst die redenden da waren und nachher die stummen oder zuerst die stummen und nachher die redenden, oder ob sie durcheinander gemischt sind. Denn die Stummheit der Kinder kann natürlich von allem möglichen kommen. Und wenn das stimmt, daß die Kinder wirklich hören, also nur stumm sind, nicht taubstumm - worüber man sich manchmal auch täuscht natürlich -, wenn sie wirklich hören, wenn es also im Sprachapparat liegt, dann handelt es sich darum, darauf zu kommen, in welcher Weise Vater oder Mutter darauf einen Einfluß haben könnten.

Aber ohne genau einen solchen Fall zu kennen, ist es eigentlich leichtsinnig, darüber zu reden. Was man dabei wissen müßte, ist: Wie alt ist die Mutter und wie alt ist der Vater? Denn es kommt sehr viel darauf an, ob die beiden Eltern schon älter sind, wenn sie Kinder kriegen, oder ob sie noch junge Leute sind. Dann kommt es etwas darauf an, ob die Mutter älter ist oder der Vater. Davon hängt sehr viel ab.

Dann, nicht wahr, kommt es darauf an, was die beiden für einen Charakter haben. Und vor allen Dingen, ob in einem solchen Fall, wo, wie Sie sagen, der Betreffende in seiner Jugend Vögeln die Zunge ausgerissen hat, ob das irgendwie in Betracht kommt, das kann man erst beurteilen, wenn alle anderen Fragen entschieden sind, denn das kann nur soweit in Betracht kommen, als der Betreffende vielleicht in seiner Jugend grausam war. Die Grausamkeit als solche, die Eigenschaft als solche, die kommt in Betracht. Von einer Strafe zu reden, ist in dem Falle nicht nur ausgeschlossen, weil es solche Strafen erstens nicht gibt, und zweitens, es wäre ja keine Strafe für den Vater! Wenn man sagen würde, daß der Vater dadurch für seine Grausamkeit bestraft würde, käme mir das so vor, wie es wäre, wenn ein Junge sich seine Hände erfriert und sagt: Es geschieht meinem Vater schon recht, warum hat er mir keine Handschuhe gekauft! - Also, wenn jemand so furchtbar schwer betroffen wird wie die vier Kinder, so ist das ja nicht eine Strafe für den Vater; der ist ja viel weniger betroffen als die vier Kinder, obwohl bei ihm mehr die Grausamkeit in Betracht kommt.

Da muß man wiederum ganz bestimmte Dinge berücksichtigen. Mit dem Alter der Kinder, sehen Sie, da ist es so: Wenn man irgendwie als Junge eine Eigenschaft entwickelt, sagen wir zum Beispiel einfach, man entwickelt als Junge eine Eigenschaft mit elf Jahren, Grausam-' keit oder so etwas ähnliches, so kommt immer ein Anfang davon wiederum ungefähr nach dreieinhalb Jahren; so daß also der Betreffende diese Grausamkeit, die Neigung zur Grausamkeit mit vierzehneinhaib, fünfzehn Jahren wieder bekommt, dann mit achtzehn Jahren wiederum, mit einundzwanzigeinhalb Jahren und so weiter.

Und denken Sie sich, wenn in einem solchen Zeitraum, der da einen neuen Anfang zeigt, die Befruchtung eintritt, so kann die Befruchtung geradezu selber so eine Art Grausamkeit sein, und dann kann sie natürlich schädlich wirken. Alle solche Sachen können natürlich auf diesem Umwege durchaus in Betracht kommen. Aber das kann man erst dann behaupten, wenn alle anderen Dinge ausgeschlossen sind. Nicht wahr, ich habe Ihnen ja gesagt, was für ein Unterschied ist zwischen Wintergeburten und Sommergeburten. Nun müßte man also im Alter der Kinder richtig herausbekommen, ob die früheren Geburten vielleicht Sommergeburten gewesen sind oder Wintergeburten und so weiter.

Deshalb sagte ich: Derjenige, der gewissenhaft an die Dinge herangeht, der muß den Fall ganz genau kennen. Also wenn Sie einmal den Fall ganz genau kennen, können wir darüber reden. Ich würde es sehr gern tun. Zum Beispiel wissen Sie ja nicht, ob die vier Kinder die älteren oder die jüngeren sind. Das muß man ganz genau wissen, ob also gewissermaßen diese Neigung, stumme Kinder hervorzubringen, später geheilt worden ist, oder erst eingetreten ist, nachdem die vier redenden Kinder geboren waren. Dann müßte der Grund nach dem vierten Kind liegen. Also man müßte das alles erst ganz genau kennen.