Ablehnung der Weltwirtschaft führt zur Hungersnot

Quelle: GA 305, S. 227-228, 2. Ausgabe 1979, 29.08.1922, Oxford

Vertrauen ist das eine goldene Wort, das in der Zukunft das soziale Leben beherrschen muß. Liebe zu dem, was man zu tun hat, ist das andere goldene Wort. Und in der Zukunft werden diejenigen Handlungen sozial gut sein, die aus allgemeiner Menschenliebe gemacht werden.

Aber man muß diese allgemeine Menschenliebe erst verstehen lernen. Man muß sich nicht in bequemer Weise einreden, sie ist schon da. Sie ist eben nicht da. Und je mehr man sich sagt: sie ist nicht da, desto besser ist es. Denn diese allgemeine Menschenliebe, die muß eben die Liebe zu Taten sein, die muß aktiv werden, die muß sich in Freiheit ausleben können. Dann wird sie aber allmählich aus einem Urteil des häuslichen Herdes oder der Kirchturmnähe zu einem Universellen, zu einem Welturteil.

Und nun frage ich Sie von diesem Gesichtspunkte aus: Wie stellt sich ein solches Welturteil zum Beispiel zu dem, was jetzt als, ich möchte sagen, die furchtbarste Illustration des sozialen Chaos herzzerbrechend zu uns spricht, zu der furchtbaren Not in Osteuropa, in Rußland? Wie stellt es sich dazu?

Da handelt es sich darum, einer solchen Angelegenheit gegenüber die richtige Frage zu stellen. Und die richtige Frage ist diese: Gibt es heute auf der Erde - und die Erde muß hier herangezogen werden, denn wir haben seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht mehr Nationalwirtschaft, sondern Weltwirtschaft, das ist das Wichtige, was im sozialen Leben zu beachten ist -, gibt es heute auf der Erde zuwenig Nahrungsmittel für die gesamte Menschheit? Das wird niemand bejahen. Es gibt nicht zuwenig Nahrungsmittel auf der Erde für die gesamte Menschheit! Mag einmal die Zeit kommen, dann müssen die Menschen aus ihrem Genius heraus andere Mittel finden. Heute müssen wir noch sagen: Wenn an einem Fleck der Erde unzählbare Menschen hungern, dann sind es die menschlichen Einrichtungen der letzten Jahrzehnte, die das bewirkt haben. Denn dann sind diese menschlichen Einrichtungen nicht so, daß auf den hungernden Fleck der Erde in der richtigen Zeit die richtigen Nahrungsmittel hinkommen. Es kommt darauf an, wie die Menschen auf der Erde diese Nahrungsmittel im richtigen Augenblick in der richtigen Weise verteilen.

Was ist geschehen? In einem historischen Augenblicke ist in Rußland ein großes Gebiet der Erde durch eine aus reinem Intellektualismus, aus reiner Abstraktion geborenen Fortsetzung des Zarentums abgeschlossen worden von der Welt, eingesperrt worden. Ein für ein großes, aber doch für ein Territorium sich festlegendes Nationalgefühl hat Rußland abgesperrt von der Welt und verhindert, daß jene sozialen Einrichtungen über die Erde hin herrschen, die es möglich machen, daß, wenn einmal die Natur an einem Orte versagt, die Natur an einem anderen Orte durch Menschenhände in ausgiebiger Weise eingreifen kann.

Es müssen die Blicke, die heute das soziale Elend schauen, wenn man den richtigen Gesichtspunkt hat, dahin führen, daß die Menschen «mea culpa» sagen, daß jeder Mensch «mea culpa» sagt. Denn daß der einzelne Mensch als Individualität sich fühlt, schließt nicht das aus, daß er auch mit der ganzen Menschheit sich verbunden fühlt. Man hat in der Menschheitsentwickelung nicht das Recht, sich als Individualität zu fühlen, wenn man sich nicht zu gleicher Zeit als Angehöriger der ganzen Menschheit fühlt.

Das ist, ich möchte sagen, der Grundton, die Grundnote, die aus einer jeden Philosophie der Freiheit kommen muß, die den Menschen in einer ganz anderen Art hineinstellen muß in die soziale Ordnung. Die Fragen werden dann ganz anders.