Intellektuelle Übertreibung auf Recht beschränken

Quelle: GA 083, S. 300-302, 3. Ausgabe 1981, 11.06.1922, Wien

Denken wir uns den extremsten Fall: Es wären für irgendein Gebiet überhaupt nur eine Anzahl Lehrer da mit mittleren Fähigkeiten. Nun, selbst wenn diese Lehrer in einer Stunde, wo sie nicht zu unterrichten, sondern nur zu denken brauchen, Lehrziele ausdenken sollten, Verordnungen geben sollten, so würden sie gewiß etwas außerordentlich Gescheites zusammenbringen. Aber etwas anderes ist es nun, an die Wirklichkeit des Unterrichts heranzutreten, da kommen lediglich ihre Fähigkeiten als Gesamtmenschen in Frage. Es ist durchaus ein anderes, ob man mit dem unmittelbaren Leben rechnet oder nur mit dem, was bloß aus dem Intellekt herausgeflossen ist. Dieser Intellekt hat nämlich die Eigenschaft, daß er die Dinge übertreibt, daß er im Grunde genommen immer das Unermeßliche der Welt umfassen will. Im wirklichen Leben sollte dieser Intellekt bloß Diener sein auf dem einzelnen konkreten Gebiet.

Aber wenn man besonders bedenkt, daß sich das, was zwischen den Menschen entsteht, insofern sie einander in völliger Gleichheit in ihrem Menschenwesen gegenüberstehen, als Recht entwickeln kann, dann muß man sagen: Was sich im allgemeinen unter Menschen entwickelt, wird ganz richtig, wenn es aus den Abstraktionen der Gegenwart heraus kommt, denn so empfinden die Menschen; sie begründen Rechtsverhältnisse untereinander, die auf gewissen abstrakten Menschenbegriffen fußen, und dadurch, daß die Menschen auf demokratischem Boden zusammenkommen, erst zu den bestimmten Rechtsverhältnissen werden. Aber es wird innerhalb des Allgemein-Menschlichen nichts geschaffen werden können, was aus dem unmittelbaren Leben des einzelnen hervorsprießen will, sondern nur, was für die Menschen im allgemeinen gelten kann.

Das heißt, es wird auf demokratischem Boden, gerade wenn man ehrlich sein will, nicht das fließen können, was aus der Individualität des Menschen innerhalb des Geisteslebens erfließen soll. Daher ist es notwendig, daß man einsieht, wie zwar der Glaube an die Allmacht des Rechts- und Staatslebens eine Zeiterscheinung war, wie es auch geschichtlich berechtigt war, daß in der Zeit, in der die modernen Staaten heraufkamen, sich diese der Schule annahmen, weil sie sie anderen Mächten abnehmen mußten, die sie nicht mehr richtig verwalteten. Man sollte die Geschichte nicht nach rückwärts korrigieren wollen.

Aber man muß sich klar sein, daß aus der Entwickelung der neuesten Zeit die Tendenz hervorgeht, das Geistesleben wieder selbständig in sich zu gestalten, so daß das Geistesleben in sich seine eigene soziale Gestaltung, seine eigene Verwaltung hat, so daß auch das, was in der einzelnen Schulstunde vor sich geht, aus dem lebendigen Leben der Lehrerindividualität hervorgehen kann und nicht aus der Beobachtung irgendwelcher Verordnungen. Wir müssen uns entschließen, obwohl es als Fortschritt angesehen worden ist, das Geistesleben und mit ihm die Schule dem Staate auszuliefern, diesen Weg wiederum rückgängig zu machen. Dann wird es möglich sein, daß innerhalb des Geisteslebens, auch auf dem Gebiete des Schulwesens, die freie menschliche Individualität zur Geltung kommt. Und es braucht sich niemand zu fürchten, daß dadurch etwa die Autorität litte! Nein, da wo aus der menschlichen Individualität heraus produktiv gewirkt werden soll, da sehnen sich diese Individualitäten nach der naturgemäßen Autorität. Schon an der Waldorfschule können wir das sehen. Da ist jeder froh, wenn ihm der eine oder andere eine Autorität sein kann, weil er das braucht, was dieser andere produziert aus seiner Individualität heraus.

Und so bleibt dem staatlich-rechtlichen Leben die Möglichkeit, aus demokratischem Sinn heraus zu wirken. Wiederum aber ist es so, daß das staatliche Leben gerade durch seine Neigung zur Abstraktheit es in sich selber trägt, die Kräfte zu entwickeln, die dann zu Niedergangskräften werden. Und wer studiert, wie innerhalb des Staatlich-Rechtlichen dadurch, daß die Neigung zur Abstraktion besteht, sich eigentlich das, was Menschen tun, immer mehr und mehr abtrennen muß von dem konkreten Interesse am einzelnen Lebensgebiet, der wird auch einsehen, wie gerade im Staatsleben die Grundlage liegt für jene Abstraktion, die sich innerhalb der Kapitalzirkulation immer mehr und mehr herausgebildet hat.