Rechtliches Denken als formale Abstraktion

Quelle: GA 083, S. 296-298, 3. Ausgabe 1981, 11.06.1922, Wien

Und wenn wir dann auf das Gebiet des Staatswesens sehen, dann müssen wir vorzugsweise auf diesem Gebiete suchen, was ich in diesen Tagen bezeichnet habe als die Eroberung der Arbeit im Verlaufe der menschlichen Entwickelung für den gesamten einheitlichen sozialen Organismus. Gerade dadurch, daß sich aus Asien herüber die Theokratie zu dem Staatswesen entwickelte, das nun unter dem Einfluß der Rechtsimpulse steht, gerade dadurch entwickelt sich das Problem der Arbeit. Indem jeder einzelne zu seinem Recht kommen sollte, entwickelte sich die Forderung, daß die Arbeit richtig in den sozialen Organismus hineingestellt werden solle. Aber indem sich vom religiösen Leben das Rechtsleben loslöste, indem sich das immer mehr und mehr zur Demokratisierung hindrängt, indem sich das immer mehr und mehr entwickelte, sehen wir, wie sich in die Menschheit auch immer mehr und mehr ein gewisses formalistisches Element des sozialen Denkens hineindrängte.

Das Recht entwickelte sich ja aus dem heraus, was der einzelne Mensch dem andern zu sagen hat. Nicht aus der Vernunft kann man das Recht herausspinnen. Aber aus dem wechselseitigen Verkehr der Vernünfte, wenn ich mich des Wortes bedienen darf, unter den Menschen entsteht das lebendige Rechtsleben. Das tendiert daher zur Logik, zum formalistischen Gedanken hin. Aber indem die Menschheit eben durch ihre Epochen geht, geht sie durch Einseitigkeiten hindurch. Wie sie durch die Einseitigkeit der Theokratie hindurchgegangen ist, geht sie später durch die Einseitigkeit des Staates hindurch.

Dadurch aber wird im sozialen Leben das logische Element gepflegt, das Element, das ausdenkt. Man braucht sich nur zu erinnern, welche Summe von menschlicher Denkkraft gerade auf das Rechtsleben im Verlaufe der geschichtlichen Entwickelung verwendet worden ist.

Aber dadurch steuert die Menschheit auch zu der Kraft der Abstraktion. Und man wird empfinden können, wie immer mehr und mehr das menschliche Denken gerade unter dem Einfluß des Rechtsprinzips abstrakter und abstrakter wird. Was aber auf einem Gebiet die Menschheit ergreift, das dehnt sich zu gewissen Zeiten über das ganze Menschenleben aus. Und so, möchte ich sagen, wurde, wie ich das früher angedeutet habe, sogar das Religionsleben in das juristische Leben herübergenommen. Der Weltengesetzgebende und den Menschen Gnade verleihende Gott des Orients wurde ein richtender Gott. Weltengesetzmäßigkeit im Kosmos wurde Weltgerechtigkeit. Das sehen wir insbesondere im Mittelalter. Damit aber war in die menschlichen Denk- und Empfindungsgewohnheiten etwas wie Abstraktion hineingekommen. Man wollte immer mehr und mehr das Leben aus den Abstraktionen heraus meistern.

Und so dehnte sich das abstrahierende Leben auch über das religiöse Leben, über das geistige Leben auf der einen Seite und über das wirtschaftliche Leben auf der anderen Seite aus. Immer mehr und mehr gewann man Vertrauen zu der Allmacht des Staates, der auf sein abstraktes Verwaltungs- und Verfassungsleben eingestellt war. Immer mehr und mehr fand man es dem Fortschritt gemäß, daß das geistige Leben in Form des Erziehungslebens ganz einfließen sollte in die Staatswelt. Dann aber mußte es eingefangen werden in abstrakte Verhältnisse, wie sie mit dem Rechtsleben verknüpft sind. Das Wirtschaftliche wurde auch gewissermaßen aufgesogen von dem, was man für den Staat als das Angemessene empfand. Und in den Zeiten, in denen die moderne Art des Wirtschaftens heraufkam, war die Meinung allgemein, daß der Staat diejenige Macht sein müsse, die vor allen Dingen über die richtige Gestaltung auch des Wirtschaftslebens zu bestimmen habe. Damit aber bringen wir die anderen Zweige des Lebens unter die Macht der Abstraktion. So abstrakt das selber aussieht, so wirklichkeitsgemäß ist es aber.