Demokratisches Streben aus geistig-wirtschaftlichem Zwang

Quelle: GA 338, S. 153-157, 4. Ausgabe 1986, 16.02.1921, Stuttgart

Denn man muß, wenn man heute von der Gesundung der sozialen Verhältnisse reden will, schon durchaus sich dessen bewußt sein, daß wir in einem welthistorisch wichtigen Augenblick der Menschheitsentwickelung stehen, daß gewisse Dinge einfach dadurch angestrebt werden, daß sie sich aus den Untergründen des menschlichen Seelenlebens herausarbeiten.

Und einer der wichtigsten Impulse, die sich da aus den Untergründen des menschlichen Seelenlebens herausarbeiten, das ist der, die alten Zwangseinrichtungen im Verhältnis von Mensch zu Mensch zu überwinden.

Beachten Sie wohl gerade diese Formel: Überwindung der alten Zwangseinrichtungen im Verhältnis von Mensch zu Mensch. Wir sehen zurück in die sozialen Verhältnisse der Menschheit. Wir finden, daß es in älteren Zeiten die Einrichtung gegeben hat, auf das bloße Blut hin soziale Schichtungen zu bewirken; durch sein Geborensein aus diesem oder jenem Stamm, aus dieser oder jener Familie heraus war der eine Herr, der andere Knecht, der eine der Befehlende, der andere der Hörige. Je weiter wir zurückgehen in der Entwickelung der Menschheit, desto mehr finden wir, daß auf solche Bluts- und Erblichkeitsverhältnisse das soziale Leben gebaut war. Sie haben sich zum Teil noch im Bewußtsein der Menschen erhalten. Was als Klassenbewußtsein der Adelsschichten heute noch immer existiert, rührt ja schließlich durchaus aus alten Zeiten her und ist im wesentlichen eine Fortsetzung jener sozialen Forderungen, die sich auf das Blut in alten Zeiten gegründet haben.

Nun ist allerdings im Laufe der neueren Zeit in diese soziale Schichtung eine andere hineingeschoben worden. Und diese andere beruht auf der wirtschaftlichen Macht. Zu demjenigen, das früher als von einer gewissen Seite aus berechtigt anerkannt worden ist, nämlich aus dem Blut heraus Herr oder Knecht zu sein, zu dem ist hinzugetreten, was die modernen wirtschaftlichen Verhältnisse gebracht haben: die Schichtung eben durch die wirtschaftliche Macht. Der wirtschaftlich Mächtige gehört einer anderen Klasse an als derjenige, der nichts hat, der also der wirtschaftlich Ohnmächtige ist. Das hat sich hineingeschoben in das Alte. Im Grunde genommen beruht ja vieles in unseren sozialen Verhältnissen der Gegenwart noch immer auf einem Fortleben der alten Zwangsverhältnisse. Gegen das bäumt sich das heutige Menschheitsbewußtsein auf. Und im Grunde genommen beruht ein großer Teil dessen, was wir die sozialen Fragen nennen, auf diesem demokratischen Aufbäumen gegen die alten Zwangsverhältnisse.

Es muß daher die Frage entstehen: Wie hat man sich nach dieser Richtung hin zu verhalten?

Und da muß man sich doch klar machen, daß ohne die Abgliederung des freien Geisteslebens von den übrigen Gliedern des sozialen Organismus auf dem Boden, den ich eben charakterisiert habe, ein haltbarer sozialer Zustand nicht geschaffen werden kann. Wenn das Geistesleben wirklich auf seinen eigenen Boden gestellt wird, dann wird es in diesem Geistesleben nicht irgendein soziales Zwangsverhältnis geben können, sondern nur das Verhältnis der freien Anerkennung. Und diese freie Anerkennung, die ergibt sich ganz von selbst innerhalb des sozialen Lebens. Grob gesprochen: Man wird doch kaum irgendwo jemanden als einen Musiklehrer anstellen, der niemals in seinem Leben irgendein Musikinstrument gespielt hat, und es wird niemals das demokratische Gefühl fordern, daß absolute Gleichberechtigung herrschen soll unter allen Menschen mit Bezug auf die Bestellung eines Musiklehrers. Sondern es wird in ganz selbständiger freier Anerkennung jemand zum Musiklehrer bestellt werden, der die Dinge, die nötig sind zum Musiklehrer, kennt und kann. Und man wird dem, der die Dinge kennt und kann, dann, wenn nirgends etwas ist, was zwangsmäßig geübt wird, die Anerkennung nicht versagen können; die wird sich ganz von selbst herausstellen.

Es wird im freien Geistesleben gerade sehr, sehr viel von den Dingen geben, die ähnlich sind dem Bauen auf Autorität. Aber es wird überall ein Bauen sein auf selbstverständliche Autorität. Denn worauf beruht das Aufbäumen zahlloser Menschen der Gegenwart gegen jegliche Autorität? Es beruht dieses Aufbäumen auf nichts anderem, als daß die Leute wahrnehmen: die wirtschaftlichen Verhältnisse legen uns Zwangsunterordnungen auf, und wir erkennen nicht an, daß aus den wirtschaftlichen Verhältnissen uns Zwangsunterordnungen auferlegt werden. Ebensowenig erkennen die Leute an, daß aus den politischen oder Blutsverhältnissen heraus Zwangsunterordnungen auferlegt werden. Dagegen bäumt sich eben das Historische, das ich charakterisiert habe als das demokratische Gefühl, das aus den tiefen Untergründen der Menschheit heute an die Oberfläche tritt.

Und da natürlich die weitesten Kreise von den Intellektuellen und Geistig-Führenden keine Genauigkeit, sondern Keyserlingeleien gelernt haben, so nehmen sie die Geschichte so, daß sie sich sagen: sie lehnen sich auf gegen jede Autorität im wirtschaftlichen Leben. Und nun das dritte, das Geistesleben, das nimmt man auch noch dazu, weil es eben nicht in seiner ganz besonderen Wesenheit vor die Seelenaugen der Menschen tritt. Das kann es bloß, wenn es tatsächlich in unmittelbarer freier Selbstverwaltung dasteht. Aus den verschiedensten Untergründen heraus muß man die Notwendigkeit der Befreiung des Geisteslebens den Leuten klarmachen.

Und man muß auf folgendes noch einen großen Wert legen: Es muß ein Gebiet da sein, wo sich die Menschen wirklich gleich fühlen. Das ist heute dadurch nicht da, daß auf der einen Seite der Staat aufgesogen hat das Geistesleben und auf der anderen Seite an sich heranzieht das Wirtschaftsleben, daß er also das Autoritative von beiden Seiten in sein Wesen hereinzieht und daß eigentlich gar kein Boden da ist, auf dem sich die Menschen, die mündig geworden sind, völlig gleich fühlen würden. Ist der Boden da, auf dem sich die Menschen, die mündig geworden sind, völlig gleich fühlen können, kann jemand wirklich empfinden: Ich bin als Mensch gleich jedem anderen Menschen. Dann wird er auch auf dem Gebiet, wo er das nicht empfinden kann, weil es eine Absurdität ist, die Autorität anerkennen oder das assoziative Urteil.

Es wird wiederum etwas auftreten - das ist heute noch nicht opportun, den Leuten zu sagen; aber ich sage es Ihnen -, es wird etwas auftreten, wie dasjenige ist, was aus anderen Verhältnissen heraus in alten Zeiten eine gewisse Rolle gespielt hat. Nehmen Sie ein Dorf in alten Zeiten: der Pfarrer war im vollsten Sinne des Wortes eine Art Gottheit. Aber es gab Gelegenheiten, wo der Pfarrer rein als Mensch unter den anderen Menschen erschien. Das schätzten sie sehr. Wenn wir nun auf der einen Seite das Geistesleben haben mit der Anerkennung, der freien Anerkennung der selbstverständlichen Autorität, auf der anderen Seite das Wirtschaftsleben mit dem Gruppenurteil, das auf dem Zusammenfluß der Urteile der assoziierten Menschen beruht, und dazwischen einen Boden, wo sich die Menschen ganz ohne Unterschied des übrigen Autoritativen begegnen - und das würde der Fall sein, wenn die Dreigliederung des sozialen Organismus da wäre -, dann wirkte das tatsächlich im allertiefsten Sinn real zur Lösung der sozialen Frage. Aber es muß im tiefsten Sinn das der Fall sein, daß der Lehrer, der geistige Mensch - ich meine das jetzt symbolisch - seine Toga auszieht, wenn er sich auf dem Boden des sozialen Staatslebens zeigt, und daß der Arbeiter seine Bluse ausziehen kann, wenn er sich auf den Boden des sozialen Staatslebens stellt, so daß in der Tat von beiden Seiten her die Menschen in der gleichen Uniform sich begegnen, die ja keine Uniform im gewöhnlichen Sinne zu sein braucht, aber gleichwertig sein kann, wenn sie auf dem Boden des Rechtlich-Staatlichen stehen.