Bei Geistesleben zu viel, bei Wirtschaftsleben zu wenig Urteil

Quelle: GA 337b, S. 072-075, 1. Ausgabe 1999, 16.08.1920, Dornach

Vergleichen wir einmal in sozialer Beziehung das wirtschaftliche Leben mit dem geistigen Leben, das wir ja gerade charakterisiert haben. Das geistige Leben beruht darauf, daß der einzelne Mensch gewissermaßen zuviel hat. Dasjenige, was die Menschen geistig besitzen, geben sie ja zumeist sehr gern ab; da sind sie freigebig, und sie überliefern das gern den anderen. Gegenüber demjenigen, was materieller Besitz ist, da sind die Menschen nicht im gleichen Sinne freigebig; den materiellen Besitz behalten sie lieber für sich selbst. Aber das, was sie geistig besitzen, das geben sie ganz gern ab, da sind sie freigebig. Das beruht aber auf einem guten Weltgesetz. Der Mensch kann eben über sich hinausgehen in geistiger Beziehung; und in der Weise, wie ich es eben geschildert habe, ist es dem anderen förderlich, wenn der Mensch ihm etwas gibt, auch wenn er wiederum von dem anderen nichts entgegennimmt. Das heißt, indem der Mensch in geistiger Beziehung in das soziale Leben eintritt, hat er, ich möchte sagen, in seinem Innern zuviel an Urteil, zuviel an Vorstellungen; es drängt ihn abzugeben, er muß sich den anderen mitteilen.

Im Wirtschaftsleben ist es genau umgekehrt. Aber man kommt darauf nur, wenn man eben von Erfahrungen ausgeht, nicht von irgendeiner theoretisierenden Wissenschaft. Im Wirtschaftsleben kann man nämlich nicht auf dieselbe Weise wie im Geistesleben - also von Mensch zu Mensch - zu einem Urteil kommen, sondern im Wirtschaftsleben kann man nur zu einem Urteil kommen, wenn man als einzelner Mensch oder auch als in irgendeine Assoziation hineingestellter Mensch wiederum einer anderen Assoziation gegenübersteht. Deshalb fordert der Impuls für die Dreigliederung des sozialen Organismus das Assoziative: Die Menschen müssen sich nach ihren Berufszweigen oder nach Produzenten, Konsumenten und so weiter assoziieren. Es wird im Wirtschaftsleben Assoziation der Assoziation gegenüberstehen. Vergleichen wir das mit dem einzelnen Menschen, der meinetwillen viel Geist im Kopfe hat; diesen Geist kann er vielen Menschen mitteilen. Der eine nimmt's besser, der andere schlechter auf, aber er kann diesen Geist, den er hat, vielen Menschen mitteilen. Da ist die Möglichkeit also vorhanden, daß der Mensch dasjenige, was er an Geist besitzt, an viele Menschen abgibt. Im Wirtschaftsleben ist das genau umgekehrt.

Vom Wirtschaftsleben haben wir zunachst überhaupt nichts im Kopfe. Dasjenige, was ich zu einigen von Ihnen schon gestern gesagt habe, das ist durchaus wahr: Wenn man urteilen will über das, was im Wirtschaftsleben richtig oder unrichtig ist, gesund oder ungesund ist, und wenn man das nur herausspinnen will aus dem Inneren, dann gleicht man eben jenem Jean Paulschen Menschen, der mitten in der Nacht im finstern Zimmer aufwacht und nachdenkt, wieviel Uhr es ist, der also herauskriegen will im finsteren immer, wo er nichts sieht und nichts hört, wieviel Uhr es ist. Man kann nicht durch Nachdenken herauskriegen, wieviel Uhr es ist. Man kann ebensowenig durch Nachdenken oder durch innere Entwicklung zu einem wirtschaftlichen Urteil kommen. Man kann nicht einmal zu einem wirtschaftlichen Urteil kommen, wenn man mit einem anderen Menschen verhandelt. Goethe und Schiller haben gut dasjenige, was Geistig-Seelisches ist, miteinander austauschen können. Zwei Menschen miteinander können nicht zu einem wirtschaftlichen Urteil kommen. Zu einem wirtschaftlichen Urteile kann man nur kommen, wenn man einer Gruppe von Menschen gegenübersteht, die Erfahrungen gemacht haben, jeder auf seinem Gebiete, und wenn man das dann als Urteil aufnimmt, was sie als Assoziation, als Gruppe, herausgekriegt haben. Geradeso, wie man auf die Uhr schauen muß, wenn man wissen will, wieviel Uhr es ist, muß man, um zu einem wirtschaftlichen Urteil zu kommen, die Erfahrungen, die niedergelegten Erfahrungen einer Assoziation, aufnehmen. Und man kann sehr schöne Dinge über dasjenige hören, was die Pflicht des einen Menschen gegenüber dem anderen Menschen ist, was das Recht des einen Menschen gegenüber dem anderen Menschen ist, wenn er dem anderen gegenübersteht; aber man kann nicht zu einem wirtschaftlichen Urteil kommen, wenn bloß ein Mensch dem anderen gegenübersteht, sondern man kann nur zu einem wirtschaftlichen Urteil kommen, wenn man das auffaßt, was in Assoziationen, in Menschengruppen, im gegenseitigen wirtschaftlichen Verkehr als wirtschaftliche Erfahrung niedergelegt ist. Da muß das gerade Gegenteil von dem vorhanden sein, wie man sozial geistig-seelisch zusammenlebt. Im Geistig-Seelischen muß der einzelne Mensch das, was er in seinem Innern entwickelt, an die Menschen abgeben. Im Wirtschaftlichen muß der einzelne Mensch das, was die Erfahrungen der Assoziation sind, aufnehmen. Wenn ich mir ein wirtschaftliches Urteil bilden will, kann ich mir das nur bilden, wenn ich bei Assoziationen angefragt habe, was sie mit diesem oder jenem Artikel in der Produktion, im gegenseitigen Verkehr und so weiter für Erfahrungen gemacht haben. Und darauf wird es ankommen bei der Bildung eines sozialen Urteils auf wirtschaftlichem Gebiete, daß solche Assoziationen gerade den Wirtschaftskörper des dreigliedrigen sozialen Organismus ausmachen und daß jeder einzelne solchen Assoziationen angehört. Um zu einem wirtschaftlichen Urteil zu kommen, aus dem heraus man wiederum handeln kann, müssen die wirtschaftlichen Erfahrungen der Assoziationen vorliegen. Was wir Wissenschaftliches, Erkenntnismäßiges erfahren sollen, das müssen wir im freien Geistesleben durch die einzelnen individuellen Erfahrungen bekommen. Was uns anregen soll zum wirtschaftlichen Wollen, das muß der einzelne erfahren, indem er von Assoziationen die Erfahrungen überliefert bekommt. Nur durch Zusammenschluß von Menschen, die in wirtschaftlicher Tätigkeit sind, können wir selber zu einem wirtschaftlichen Wollen kommen.

Radikal voneinander verschieden ist die Bildung des Urteiles im geistig-seelischen Gebiete und im wirtschaftlichen Gebiete. Und gedeihlich entwickeln kann sich ein Wirtschaftsleben neben einem Geistesleben nicht, wenn die beiden Gebiete Verordnungen von einer und derselben Stelle kriegen, sondern nur, wenn das Geistesleben so gestellt ist, daß die einzelne Individualität darinnen völlig frei dasjenige, was sie hat, einer anderen überliefern kann. Und das wirtschaftliche Leben kann nur gedeihen, wenn die Assoziationen so sind, daß die miteinander durch Produktion oder Komsumtion verwandten Wirtschaftszweige assoziativ zusammengeschlossen sind und dadurch das wirtschaftliche Urteil, welches wieder dem wirtschaftlichen Wollen zugrundeliegt, entsteht.