Sittliche Gleichheit durch individuelle geistige Freiheit

Quelle: GA 334, S. 291-294, 1. Ausgabe 1983, 06.05.1920, Basel

Lernen kann man gerade aus einer solchen Betrachtung, daß dann, wenn der Mensch aus irgendeiner Lokalkultur, und wäre das Lokal noch so groß, herausgestaltet dasjenige, was in ihm veranlagt ist, so ist es eine Einseitigkeit. Die wunderbare Urkultur - eine Einseitigkeit, die Westkultur mit ihrem Materialismus - eine Einseitigkeit.

Das alles gibt eine Vorstellung, wie einseitig dasjenige ist, was in den einzelnen Völkern lebt. Daher muß der moderne Mensch, der nun einsieht, daß über die ganze Erde hin eine gleichmäßige, nicht nur materiell-wirtschaftliche, sondern Seelenkultur wachsen muß, der muß aus anderen Untergründen heraus als dem Völkischen geistig-sittliche Ideen entwickeln. Die Menschheit ist dazu veranlagt, denn in ihren verschiedenen Völkern bringt sie die einseitigen Begabungen. Aber über das Völkische muß der Einzelmensch hinauswachsen. Er wächst nur hinaus über das Völkische, wenn er nicht aus irgendeinem Volkstum anderes begründet, als was zu diesem seinem Volkstum gehört, sondern wenn er aus diesem Volkstum heraus das allgemeine Menschentum zu gestalten vermag.

Für die ethische Grundlegung der Weltanschauung habe ich das versucht in meinem Buche, das Anfang der neunziger Jahre zum ersten Male erschienen ist, in meiner «Philosophie der Freiheit». Da ist versucht worden, den Menschen den Weg zu Freiheit und zugleich zur Sittlichkeit zu zeigen, so daß in diesem Buche aber auch gar nichts gefunden werden kann, was nur aus einer einseitigen, völkischen Richtung heraus geboren wäre. Da ist alles so gedacht, daß es der Orientale so denken kann wie der Westmensch und wie der mittelländische Mensch. Da ist überhaupt von einer Volksdifferenzierung nichts darin.

Da ist wie eine selbstverständliche Note durch das ganze Buch durchgehend, daß der Mensch noch nicht Vollmensch ist, wenn er sich als Angehöriger einer menschlichen Differenzierung fühlt, einer Nation, eines Volkes fühlt, daß er Vollmensch ist erst, wenn er herauswächst aus dieser Differenzierung. Gewiß, der Mensch ist Russe, der Mensch ist Engländer, der Mensch ist Franzose; aber der Franzose, der Russe, der Engländer ist als solcher nicht Mensch, sondern der Mensch muß aus seinem Volkstum herauswachsen. Das zeigt gerade ein wirkliches verständnisvolles Betrachten dieses Volkstums.

Dann aber kommt man dazu, die Sittlichkeit auf die menschliche Individualität zu bauen. Und baut man sie auf die menschliche Individualität, dann kommt man darauf, worauf im sozialen Zusammenleben die Sittlichkeit beruhen muß: Die Sittlichkeit muß im sozialen Zusammenleben beruhen auf dem Vertrauen, das der einzelne Mensch zum einzelnen Menschen haben kann. Dieses Vertrauen muß da sein können. Dahin muß die Erziehung wirken, jene Erziehung, welche uns allein eine Besserung unserer sozialen Verhältnisse bringen kann.

Man erwähnt in gewissen Kreisen immer wieder und wiederum, daß nur der Zwang, daß nur die Macht, nur die Organisation dasjenige sein könne, was innerhalb des menschlichen sozialen Organismus Ordnung macht. Nein, nimmermehr wird die Organisation Ordnung machen; sondern der soziale Organismus kann nur gedeihen, insoweit als ein Mensch zu anderen Menschen Vertrauen haben kann, als die Sittlichkeit in der menschlichen Individualität verankert wird.

«Ethischer Individualismus» wurde genannt dasjenige, was ich in meiner «Philosophie der Freiheit» zu begründen versuchte, «Ethischer Individualismus» aus dem Grunde, weil in der Tat dasjenige, was als Ethik, was als sittliche Idee auftritt, aus der Individualität des einzelnen Menschen heraus auftreten muß.

Aber nun kommt das Bedeutsame. Ich habe Ihnen gestern eine Stelle vorgelesen von einer Persönlichkeit, die mit dem Materialisten Moleschott korrespondierte. Da wird gesagt: Die sittlichen Impulse sind in jedem Menschen, deshalb in jedem Menschen anders. - Sehen Sie, das ist Materialismus. Die wirkliche Einsicht ist die genau entgegengesetzte. Wahr ist es: die ethische Grundlegung ist in jedem menschlichen Individuum. Aber im höchsten Sinne tritt uns das wunderbar entgegen, daß sie in jedem menschlichen Individuum dieselbe ist; nicht eine irgendwie vorherbestimmte Gleichheit, nicht eine organisierte Gleichheit, sondern eine gegebene Gleichheit ist es, die unter den Menschen auftritt. Und immer wieder von neuem treten wir vor jeden Menschen hin, um mit jedem Menschen zusammen vertrauensvoll sittliche Impulse zu begründen.

Das ist dasjenige, was den ethischen Individualismus, wenn er richtig erfaßt wird, wenn er begriffen wird als der wahre Akt der menschlichen Freiheit, zu gleicher Zeit zur universellen Ethik macht, und was uns hoffen läßt, daß wir dahin kommen als sittliche Menschen, daß wir ebensowenig, wie, wenn wir einander auf der Straße begegnen, es richtig finden, daß der eine den anderen, indem er an ihm vorbeigeht, anrempelt - man weicht sich selbstverständlich aus -, so wird, wenn jenes Menschenbewußtsein, von dem ich Ihnen gestern und vorgestern gesprochen habe, aus geisteswissenschaftlichen Untergründen die Menschen ergreift, so wird sie solches Empfinden, solches Denken in den Menschen erzeugen, daß dasjenige, was sittlich unter ihnen lebt, so selbstverständlich wird, wie das, daß man sich nicht anrempelt gegenseitig, wenn man aneinander vorbeigeht.

Wir können, wenn wir so als Menschen nebeneinander leben, daß wir den Menschen, begegnend in welcher Lage immer im Leben, verstehen werden; wir können Sittlichkeit aus der Menschennatur selbst heraus bringen. Das zeigt, wie, ausgehend von geistig-orientalischen Urzeiten, zum Menschenfühlen in der Erdenmitte, zur menschlichen Abstrahierung, zum menschlichen Verstehen der Welt, zum Verstehen sowohl der Welt als der Natur, wie das der Weg ist, um endlich den Menschen wirklich zum Erfassen der Freiheit zu bringen.

Aber nur dann, wenn er aus geisteswissenschaftlichen Untergründen heraus die Sittlichkeit wieder findet. Im Oriente war sie gegeben durch den Inhalt der sittlichen Ideen, die aber noch wie mit einer Naturnotwendigkeit durch den Menschen hindurch wirken. Aus dieser Naturnotwendigkeit wurde herausgeworfen der Inhalt des Sittlichen. Der Mensch stand gewissermaßen sittlich nackt vor der Natur, sittlich bloß vor der Natur. Er soll in sich, in seiner Individualität, die Sittlichkeit wieder gebären. Er wird sie nur wieder gebären, wenn er sie aus dem wiedergefundenen Geistigen seines innersten Wesens heraus gebären kann.

Das ist dasjenige, was Geisteswissenschaft, Geisteserkenntnis will: ein sittliches Wollen zu gebären, das wirklich unseren sozialen Aufstieg bewirken kann. Geisteswissenschaft möchte das, weil sie glaubt, einsehen zu müssen, daß der Menschheit der Gegenwart und Menschheit der nächsten Zukunft insbesondere das notwendig sei, daß soziale Gesundung nur hervorgehen könne aus geistiger Gesundung.