Recht durch Zusammenwirken statt Geburt und Konvention

Quelle: GA 334, S. 099-100, 1. Ausgabe 1983, 17.03.1920, Zürich

Wenn wir so unbefangen, ohne Sympathie und Antipathie, dasjenige prüfen, was das Leben der Gegenwart beherrscht, so müssen wir sagen: Auf dem Gebiete des Geisteslebens die Phrase, auf dem Gebiete des Rechtslebens die Konvention, und auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens die Routine. Zum Heile können allein die Kräfte führen, die ich mir erlauben werde morgen zu schildern, also wenn an die Stelle der Phrase tritt die von substantiellem Geist, von angeschautem Geiste erfüllte Rede, die nur kommen kann in einem auf sich selbst gestellten Geistesleben, das herausträgt, was der Mensch hereinzutragen hat in das äußere Leben, das nicht so beherrschen will dieses Geistesleben wie die Naturgesetze, die gewonnen werden durch die äußere Erfahrung. An die Stelle der Konvention desjenigen, was äußerlich festgesetzt ist, muß das lebendige Wechselspiel treten, das entstehen kann, wenn auf streng demokratischem Boden alle mündig gewordenen Menschen für dasjenige, was allgemein menschliche Angelegenheiten sind, was der Mensch nicht durch seine Geburt hereinträgt, sondern was sich erst im menschlichen Zusammenleben der mündig gewordenen Menschen entwickeln kann, eintreten. Aus der Routine, die haften bleibt am vergänglichen Wirtschaftsobjekte, kann sich nur die wahre Lebenspraxis entwickeln, wenn der Mensch aus dem phrasenfreien, gedankenerfüllten Worte zu einer solchen Weltanschauung kommt, daß er weiß: er muß Assoziationen begründen, die bezeugen, die offenbaren, daß dasjenige, was bewirkt wird auf dem Boden des Wirtschaftslebens, noch mehr ist als dasjenige, was man durch die Maschine zustande bringt, daß es ein Glied ist in dem Gesamtprozesse der Menschheitsentwickelung auf der Erde. Darinnen wird man nicht stehen, wenn man als Routinier an seiner Maschine, in seiner Fabrik, in seiner Bank oder sonst irgendwo steht, darinnen wird man nur stehen, wenn von einem zu dem anderen Menschen ausgehen die Fäden der Assoziation, wenn der Mensch von dem anderen Menschen erfährt, wie er in seinem Konsumieren, in seinem Produzieren mit der ihm nächstliegenden sozialen Organisation zusammenhängt. Da wird sich in dem, was diese Menschen zusammen wirken, in diesen Assoziationen ergeben, daß sie in ihrem Wirtschaftsleben etwas begründen, was mehr ist als der Mensch im Wirtschaftsleben haben kann. Der Mensch muß wirtschaften, aber er erhebt sich mit seinem ganzen Menschenwesen aus dem Wirtschaften heraus aus dem Vergänglichen zum Ewigen. Und er wird erfahren aus seinem Wirtschaftsleben, daß er gerade, indem er hier im Leben ein Praktiker wird, an der Praxis eine Schule hat, deren Ergebnisse er noch durch den Tod hindurchtragen kann.

So ergibt sich gerade aus einer mehr nach dem Geiste hin trachtenden Beobachtung über das gegenwärtige Leben aus den drei charakteristischsten Herrschaftsgebieten, dem der Phrase, dem der Konvention, dem der Routine, die Notwendigkeit, zu wirken nach einer Dreigliederung des sozialen Lebens, nach einer Gesundung unseres Geisteslebens durch seine Selbständigkeit, nach einer Gesundung unseres Rechtslebens, das nur befreit werden kann von der Konvention, wenn die lebendige demokratische Wechselwirkung eintritt zwischen allen mündig gewordenen Menschen, nach einer Gesundung des Wirtschaftslebens, indem durch die Selbständigkeit des Wirtschaftslebens die Routine aufgehoben wird zugunsten einer wirklichen Lebenspraxis. Das kann aber nur geschehen, wenn Mensch mit Mensch sich assoziativ verbindet; denn nur durch dieses soziale Zusammenwirken entsteht aus dem, was der einzelne erwirtschaften kann, etwas, was die ganze Menschheit über sich selbst von der bloßen Materie zum Geiste hinführt. Phrase bedeutet auf dem Gebiete des Geisteslebens den Ungeist; Konvention bedeutet auf dem Gebiete des staatlichen, des Rechtslebens den Ungeist; Routine bedeutet den Ungeist auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens. An die Stelle des Ungeistes muß der Geist treten. Daß er es könne, mit welchen Kräften er es könne, das will ich mir erlauben, morgen zu schildern. Denn allein, wenn da tritt an die Stelle der Phrase wiederum die gedankengetragene Rede, dadurch aber wiederum der Geist, wahres Geistesleben, nur dadurch, daß an die Stelle der Konvention das vom menschlichen sozialen Fühlen erfüllte Rechtsleben tritt, und nur dadurch, daß an die Stelle der wirtschaftlichen Routine die durchgeistete Wirtschaft, die vom Geiste geordnete, assoziationendurchtränkte Wirtschaft tritt, dadurch allein wird unser ganzes öffentliches Leben geheilt werden können von dem, woran es krankt in der Gegenwart, man muß das sagen: woran es zugrunde gehen müßte, wenn kein Heilungsprozeß eintreten würde.