Menschen kennen die Wirtschaft nicht, sondern nur ihren Wirtschaftszweig

Quelle: GA 337a, S. 153-154, 1. Ausgabe 1999, 03.03.1920, Stuttgart

Weil die Menschen so ungewohnt sind in der Gegenwart, an die Wirklichkeit heranzugehen, deshalb versteht man die Sache auch so schwer; die Menschen sind ungewohnt, an die Wirklichkeit heranzugehen. Was verstehen denn die Leute von einem Wirtschaftsleben als ganzem? Der Baumeister versteht etwas vom Bauen, der Tischlermeister versteht etwas vom Tischlern, der Schuhmacher vom Schuhemachen, der Friseur vom Bartschneiden, jeder versteht etwas von dem entsprechenden Wirtschaftlichen, mit dem er zusammenhängt. Aber das alles, was diese «Lebenspraktiker» irgendwie wissen über das wirtschaftliche Leben, hängt ja doch nur mit dem ihrem und nicht mit dem der anderen zusammen. Dadurch ist es so abstrakt. Es mußte einmal aus dem wirklichen Zusammenhang des gesamten sozialen Lebens heraus zu der Menschheit gesprochen werden. Weil es für die Menschen ungewohnt geworden ist, die Lebenserfahrungen zur Richtschnur zu benützen, sehen sie gerade das, was aus der Wirklichkeit geboren ist, als Utopie an. Darum aber handelt es sich, daß diese Idee von der sozialen Dreigliederung erkannt wird als das Gegenbild aller Utopie, daß sie erkannt wird als dasjenige, was aus dem wirklichen Leben heraus geboren ist, und daher auch in das wirkliche Leben sich hineinstellen kann. Und nur darum handelt es sich: daß die Menschen diese Dinge einsehen werden. Dann wird man finden, daß jeder - auf welchem Boden er auch immer stehen mag -, die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus richtig verstehen wird, gerade wenn er etwas versteht von dem Zusammenhang seiner Produktion mit dem ganzen Wirtschaftsprozeß der Welt. Diese Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus schreckt nicht zurück vor einer genauen Prüfung durch diejenigen, die durch ihr ganzes Verhältnis zum Leben etwas vom Wirtschaftsleben verstehen. Aber es verstehen heute nicht viele Menschen vom Wirtschaftsleben oder sozialen Leben überhaupt etwas; sie lassen sich treiben und haben es am besten, wenn sie selber nicht teilzunehmen brauchen an irgendwelcher [Entscheidung über die soziale] Ordnung, sondern wenn das die Regierung für sie besorgt. Daher kommen die Menschen zu solch vertrackten Ideen, daß sie das, was lebenswirklich ist, als utopistisch ansehen.