Zusammenwirken der Völker durch Dreigliederung

Quelle: GA 196, S. 236-239, 1. Ausgabe 1966, 15.02.1920, Dornach

Wird man aber einmal richtig die Wege finden, um durchzudringen durch jenes, man möchte sagen, Bedrückende, was die deutsche Entwickelung auch noch im 19. Jahrhundert hat, dieses Widersprechende der äußeren Staatsentwickelung, die notwendig machte, daß man eingesperrt wurde, wenn man sich als Deutscher fühlte und nicht als Preuße, nicht als Württemberger, nicht als Bayer oder als Österreicher, sieht man genau hin auf dasjenige, was alles damit zusammenhängt, und studiert man es konkret in den Einzelheiten, studiert man wirklich nicht so, wie die gewissenlose Schul-Tradition heute es dem Menschen einbleut, was von der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert deutsches Geistesleben geworden ist, studiert man, wie hineinfließt dasjenige, was Goetheanismus ist, in die großen Geister, die gar nicht mehr genannt werden, während die Geistesantipoden als Große gefeiert werden, studiert man, wie hineinfließt der Goetheanismus in Menschen wie Troxler, wie Schubert und so weiter, dann findet man heraus, daß gerade die Talentlosigkeit für das Staatswesen, die Schläfrigkeit für das Staatswesen, die Gefahr, eingesperrt zu werden, wenn man Staatsbürger deutscher Färbung sein wollte, nun das deutsche Volk prädestinierte, einmal ein gutes Verständnis zu entwickeln für das Spirituelle, für das Geistesleben. Es ist zunächst nur zurückgeschlagen durch die industrielle, kommerzielle Entwickelung seit den siebziger Jahren. Die hat in Deutschland gründlich mit dem deutschen Geiste aufgeräumt, die hat als Invasion von auswärts alles das, was an Geistigkeit da war, hinweggenommen. Goetheanismus ist vergessen worden. Daß ein Geist wie Leibniz zum Beispiel unter den Deutschen gelebt hat, das müßten die Gymnasiasten besser wissen, als daß sie wissen, was Cicero geschrieben hat, aber sie wissen kaum, daß Leibniz gelebt hat.

Das sind Dinge, die in Betracht kommen und die tiefer sitzen als alles dasjenige, was man heute anführt für die Differenzierung der europäischen Mitte von dem europäischen Westen. Und wenn man davon spricht, daß Friedensbestrebungen sein sollten zwischen der europäischen Mitte und dem europäischen Westen, so muß man sich klar darüber sein, daß die ganze geschichtliche Entwickelung zeigt, solch ein Frieden kann nur zustande kommen, wenn die Deutschen selber fühlen: Sie sind nicht veranlagt für das äußere juristische staatliche Leben, sie sind veranlagt, spirituelles Leben zu pflegen. - Aber man muß es ihnen möglich machen; heute ist es ihnen unmöglich gemacht, heute haben sie auch keine Verantwortung mehr dafür. Man muß wissen, daß das eigentliche Staatsvolk das französische Volk ist, weil es am besten versteht, wie sich der einzelne Mensch als Staatsbürger fühlt. So haben wir verteilt über die hauptsächlichste Zivilisation von Europa das geistige Leben und das Rechts- und Staatsleben. Diese Dinge sind zugleich, ich möchte sagen, unter die Völker als Gaben ausgeteilt. Und das Wirtschaftsleben, das eigentliche Gebiet der neueren Entwickelung der Menschheit, das ist an das englisch-amerikanische Volk gegeben. Alles dasjenige, was zum Verständnis des Wirtschaftslebens gehört, hat daher seinen besten Gedanken gefunden innerhalb Englands und Amerikas. Vom Wirtschaften verstehen die Franzosen nichts, sie sind besser Bankiers. Vom Wirtschaften haben die Deutschen von jeher nichts verstanden, sie haben auch kein Talent dazu. Und wenn sie versucht haben, in den letzten Jahrzehnten zu wirtschaften in der Art, daß sie immer von Aufschwung sprachen und vom «Platz an der Sonne» oder einer ähnlichen Phrase, dann bedeutete das, daß sie etwas sprachen, was gänzlich außerhalb ihrer Talente lag und wodurch sie gerade das deutsche Wesen in Grund und Boden schlugen. Denn selbst alles dasjenige, was auftauchte als wirtschaftlicher Parlamentarismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist von England ausgegangen. Bis nach Ungarn hinein sind diejenigen, die im wirtschaftlichen Sinne gute Parlamentarier waren, Schüler Englands. Wenn Sie sich ansehen, welche Leute es in den Parlamenten am besten zum «Parlamentarismus» gebracht haben, wie etwa eine Zeitlang im österreichischen Parlament, besonders lange aber im ungarischen Parlament, und wenn Sie sich anschauen, wo diese Leute gelernt haben, dann werden Sie sehen: In England haben sie gelernt den wirtschaftlichen Parlamentarismus. Und wenn Sie fragen: Woher ist die deutsche Sozialdemokratie gekommen? - dann werden Sie finden: Marx und Engels haben erst müssen nach England gehen, um an den englischen wirtschaftlichen Verhältnissen das auszukochen, was dann theoretisiert ins deutsche Geistesleben aufgenommen, bis in die Konsequenzen durchgearbeitet worden ist. Und wo sind die allerersten Wurzeln des Leninismus und Trotzkijismus? Die sind bei den englischen Wirtschaftsgedanken; nur daß die Engländer sich hüten werden, diese ihre Wirtschaftsgedanken bis in die letzten Konsequenzen auszudenken.

So stehen diese drei Gebiete, von denen ich öfters schon gesagt habe, sie müssen sich miteinander vertragen, in dem Verhältnis einer Dreigliederung - deutsch: geistig; französisch: staatlich-juristisch; englisch: wirtschaftlich. Wie wird man eine Möglichkeit des internationalen Zusammenwirkens finden können? Dadurch, daß man die Dreigliederung über alle diese Gebiete ausgießt. Denn dann wird das, wozu der eine talentiert ist, auf den andern übergehen können, sonst auf keinem Wege. Das ist der geschichtliche Antrieb. So müßte eigentlich Geschichte vor allem des 19. Jahrhunderts studiert werden.

Geschichte kann man nicht studieren, wenn man nur das gelehrt bekommt, was in den heutigen Schulen gelehrt wird. Diese Geschichte ist nur zum Vergessen da, denn man kann nichts mit ihr anfangen im Leben. Geschichtsunterricht hat nur einen Sinn, wenn man mit ihm im Leben etwas anfangen kann.