Wirtschaftliche Ausbeutung des geistigen Osten

Quelle: GA 191, S. 247-251, 2. Ausgabe 1983, 14.11.1919, Dornach

Wenn wir nur weit genug zurückgehen in die Erdenentwickelung, dann finden wir, wie der Mensch nicht im irdischen Dasein selber wurzelt. Sie wissen ja, daß der Mensch vor der irdischen Entwickelung eine lange vorherige Entwickelung durchgemacht hat. Sie finden diese Entwickelung in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» beschrieben. Sie wissen, daß der Mensch dann wiederum gewissermaßen zurückgenommen worden ist in ein rein geistiges Dasein und aus diesem rein geistigen Dasein heruntergestiegen ist zum Erdendasein. Nun ist es in der Tat so, daß mit diesem Heruntersteigen des Menschen ins Erdendasein von der Menschheit mitgenommen worden ist ein ausgebreitetes, man kann es nennen Erbwissen, eine Urweisheit, eine Erbweisheit; eine Weisheit, die so war, daß sie eigentlich für die ganze Menschheit eine einheitliche war. Im einzelnen finden Sie diese Dinge geschildert in meinem Vortragszyklus «Die Mission einzelner Volksseelen» in Kristiania. Dieses Erbwissen war also ein einheitliches. Ich verstehe, indem ich vom Wissen rede, jetzt nicht bloß dasjenige, was man gewöhnlich innerhalb der Wissenschaft so nennt, sondern alles dasjenige, was der Mensch überhaupt in seine Seelenwelt als eine Anschauung von seiner Weltumgebung und von seinem Leben aufnehmen kann.

Nun hat sich dieses Urwissen spezifiziert. Es hat sich so spezifiziert, daß es verschieden geworden ist je nach den verschiedenen Territorien der Erde. Wenn Sie das äußerlich betrachten, was man die Kultur der verschiedenen Erdenvölker nennt - besser noch können Sie das überschauen, wenn Sie die verschiedenen Kapitel unserer Geisteswissenschaft zu Hilfe nehmen, wo die Sache behandelt wird -, können Sie sich sagen: Was die Menschen der verschiedenen Völkerschaften gewußt haben, war von jeher verschieden. Sie können unterscheiden eine indische Kultur, eine chinesische Kultur, eine japanische Kultur, eine europäische Kultur, und in der europäischen Kultur wiederum spezifiziert für die einzelnen europäischen Territorien, dann eine amerikanische Kultur und so weiter.

Wenn Sie sich fragen: Wodurch ist die Erb- und Urweisheit zu dieser Spezifizierung gekommen, wodurch ist sie immer mehr und mehr differenziert worden? - so werden Sie sich zur Antwort geben können: Da waren schuld daran die inneren Verhältnisse, die inneren Anlage der Völker. - Aber im wesentlichen zeigen sich immer Anpassungen dieser inneren Verhältnisse der Völker an die äußeren Verhältnisse der Erde. Und man bekommt wenigstens ein Bild über die Differenzierung, wenn man versucht, den Zusammenhang zu finden zwischen dem, was, sagen wir, indische Kultur ist und der klimatischen geographischen Beschaffenheit des indischen Landes. Ebenso bekommt man eine Vorstellung von dem Spezifischen der russischen Kultur, wenn man den Zusammenhang des russischen Menschen mit seiner Erde betrachtet. Nun kann man sagen: In bezug auf diese Verhältnisse befindet sich die gegenwärtige Menschheit, wie sie es in so vieler Beziehung ist, in einer Art Krisis. - Diese Abhängigkeit des Menschen von seinen Territorien ist im 19. Jahrhundert allmählich die denkbar größte geworden. Allerdings, die Menschen haben sich emanzipiert, mit ihrem Bewußtsein emanzipiert von ihren Territorien, das ist richtig; aber sie sind deshalb doch abhängiger geworden von diesen ihren Territorien. Man kann das sehen, wenn man vergleicht, wie, sagen wir, noch ein Grieche zu dem alten Griechenland stand, und wie etwa ein moderner Engländer oder noch der Deutsche zu seinen Ländern steht. Die Griechen hatten noch vieles in ihrer Kultur, in ihrer Bildung von der Urweisheit. Sie waren vielleicht physisch stärker abhängig von ihrem griechischen Territorium, als die heutigen Menschen von ihrem Territorium abhängig sind. Aber diese stärkere Abhängigkeit wurde aufgehoben, wurde gemildert durch das innere Erfülltsein mit der Urweisheit, mit dem Urwissen. Dieses Urwissen ist allmählich für die Menschheit verglommen. Wir können ganz deutlich nachweisen, wie um die Mitte des 15. Jahrhunderts das unmittelbare Verständnis für gewisse Urweistümer aufhört, und wie selbst die Traditionen dieser Urweistümer im 19. Jahrhundert allmählich versiegen. Künstlich werden ja, ich möchte sagen, wie Pflanzen in den Treibhäusern, die Urweisheiten noch aufbewahrt in allerlei Geheimgesellschaften, die manchmal sehr Schlimmes damit treiben. Aber diese Geheimgesellschaften bewahrten die Urweisheit im 19. Jahrhundert so auf - im 18. Jahrhundert war es noch etwas anderes -, daß man sagen kann, sie sind gleichsam wie Pflanzen in Treibhäusern. Was haben schließlich die Freimaurersymbole heute noch mit der Urweisheit, aus der sie stammen, anderes zu tun, als die in Treibhäusern gepflanzten Pflanzen mit den in der freien Natur wachsenden Pflanzen? Nicht einmal so viel wie diese mit jenen haben die Symbole der Freimaurer mit der Urweisheit noch zu tun.

Aber gerade dadurch, daß die Menschen das innere Durchdrungensein mit der Urweisheit verlieren, werden sie erst recht abhängig von ihren Territorien. Und ohne daß wiederum errungen würde ein frei zu entwickelnder Schatz von Geisteswahrheiten, würden die Menschen über die Erde hin ganz sich differenzieren nach ihren Territorien.

Wir können da in der Tat, ich möchte sagen, drei Typen unterscheiden, die wir von anderen Gesichtspunkten aus ja schon unterschieden haben. Wir können heute sagen: Wenn nicht geisteswissenschaftliche Impulse sich in der Welt ausbreiten, würden von Westen herüber nur geltend gemacht werden wirtschaftliche Wahrheiten, die ja aus ihrem Schoße manches andere auch hervorbringen können. Aber das wirtschaftliche Denken, die wirtschaftlichen Vorstellungen würden das Wesentliche sein. Es würde vom Osten herüber dasjenige kommen, was im wesentlichen geistige Wahrheiten wären. Asien wird immer mehr und mehr, wenn auch vielleicht auf sehr dekadente, so doch auf geistige Wahrheiten sich beschränken. Mitteleuropa würde mehr das intellektuelle Gebiet pflegen. Und das würde sich ja ganz besonders geltend machen, verbunden mit etwas Tradition von alten Zeiten her, verbunden mit dem, was herüberweht aus dem Westen von wirtschaftlichen Wahrheiten, und was herüberweht aus dem Osten von geistigen Wahrheiten. Die Menschen aber, die über diese drei Haupttypen der Erdengliederung hin leben würden, würden sich immer mehr und mehr nach dieser Richtung spezifizieren. Die Tendenz unserer Gegenwart zielt durchaus darauf hin, diese Spezifizierung der Menschheit tatsächlich zur Herrschaft zu bringen. Man kann sagen, und ich bitte, das recht, recht ernst zu nehmen: Würde nicht ein geisteswissenschaftlicher Einschlag die Welt durchsetzen, so würde der Osten allmählich ganz unfähig werden, eine eigene Wirtschaft zu treiben, wirtschaftliches Denken zu entwickeln. Der Osten würde nur in die Lage kommen zu produzieren, das heißt, unmittelbar den Boden zu bebauen, unmittelbar Naturprodukte zu verarbeiten mit den Werkzeugen, die geliefert werden von dem Westen. Aber alles dasjenige, was von der menschlichen Vernunft aus wirtschaftet, würde sich im Westen entwickeln. Und von diesem Gesichtspunkte aus angesehen, ist die eben abgelaufene Weltkriegskatastrophe nichts anderes als der Anfang zu der Tendenz - ich will in einem beliebten Ausdruck sprechen -, den Osten von dem Westen aus wirtschaftlich zu durchdringen; das heißt, den Osten zu einem Gebiet zu machen, in dem die Leute arbeiten, und den Westen zu einem Gebiet zu machen, in dem gewirtschaftet wird mit demjenigen, was der Osten aus der Natur heraus arbeitet. - Wo dabei die Grenze zwischen dem Osten und dem Westen ist, das braucht nicht festgesetzt zu werden, denn das ist etwas Variables.

Ginge die heute herrschende Tendenz weiter, würde sie nicht geistig durchsetzt, so würde ganz zweifellos - man braucht es nur hypothetisch auszusprechen - das entstehen müssen, daß der ganze Osten wirtschaftlich ein Ausbeutungsobjekt würde für den Westen. Und man würde diesen Gang der Entwickelung für dasjenige ansehen, was das Gegebene für die Erdenmenschheit ist. Man würde es als das ganz Gerechte und Selbstverständliche ansehen. Es gibt kein anderes Mittel, in diese Tendenz das hineinzubringen, was nicht die halbe Menschheit zu Heloten, die andere Menschheit zu Benützern dieser Heloten macht, als die Erde mit der wiederum zu erringenden gemeinsamen Geistigkeit zu durchdringen.