Arbeitszeit durch demokratisches statt Einzelurteil

Quelle: GA 332a, S. 108, 2. Ausgabe 1977, 26.10.1919, Zürich

Liegt es in der Urteilsfähigkeit jedes Menschen, zu bestimmen, wieviel Arbeitszeit ein bestimmter Produktionszweig erfordert?

Ja, urteilsfähig zu sein mit anderen Menschen zusammen, über solche Fragen zu entscheiden, ist etwas anderes, als das Liegen in der Willkür eines einzelnen Menschen. Wenn Sie meine «Kernpunkte der sozialen Frage» lesen - und ich werde ja auf das Arbeitsrecht noch zurückkommen in den Vorträgen -, dann werden Sie sehen, daß im dreigliederigen sozialen Organismus die Regelung von Art der Arbeit, von Zeit der Arbeit eine Angelegenheit des öffentlichen Rechtes werden soll, daß also das, was hier gefragt wird, geregelt werden soll gerade auf dem demokratischen Rechtsboden. Da handelt es sich also darum, daß eine solche Frage geregelt wird von jedem Menschen mit allen anderen Menschen des sozialen Organismus zusammen. Dazu ist der Mensch urteilsfähig, daß er mit den anderen zusammen über eine solche Frage eine Regelung vornehmen kann. Also es ist nicht berechtigt zu fragen: Liegt es in der Urteilsfähigkeit jedes Menschen, zu bestimmen, wieviel Arbeitszeit ein bestimmter Produktionszweig erfordert? - Das liegt ganz gewiß nicht beim einzelnen Menschen, in seiner Willkür; aber es liegt in der Möglichkeit, darüber ein öffentliches Urteil zu gewinnen durch demokratische Regelung und demokratische Majorität auf einem solchen Rechtsboden, wie ich ihn heute geschildert habe.