Rechts- neben statt unter dem Wirtschaftsleben

Quelle: GA 332a, S. 089-091, 2. Ausgabe 1977, 26.10.1919, Zürich

Anders muß sich das Leben abspielen auf dem Rechtsboden. Auf dem Rechtsboden kann der Mensch dem Menschen gegenüberstehen. Auf dem Rechtsboden kann es sich nur handeln um die Festlegung von Gesetzen, die eben die öffentlichen Rechte durch Majoritätsbeschlüsse regeln. Gewiß, sehr viele Menschen sagen: Aber was ist denn schließlich das öffentliche Recht? Es ist ja nichts anderes als dasjenige, was, in Worte gefaßt, in Gesetze bringt, was in den wirtschaftlichen Zuständen lebt! - Es ist in vieler Beziehung so. Aber das läßt die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus, wie sie die Wirklichkeit überhaupt nicht unberücksichtigt läßt, durchaus nicht außer acht: Was sich durch die Beschlüsse auf demokratischem Boden als rechtens ergibt, das tragen selbstverständlich die Menschen, die wirtschaften, in das Wirtschaftsleben hinein. Nur sollen sie es nicht heraustragen und zum Rechte erst machen. Sie tragen es in das Wirtschaftsleben hinein.

Abstraktlinge, die sagen: Ja, aber ist denn nicht im äußeren Leben dasjenige, was der eine mit dem anderen wirtschaftet, wenn er einen Wechsel ausstellt oder dergleichen, und was sich da im Wechselrecht ergibt, ganz in der Handlung des wirtschaftlichen Lebens drinnen enthalten? Ist denn das nicht eine völlige Einheit? Und du kommst, Dreigliederer, und willst das, was im Leben eine völlige Einheit ist, jetzt auseinandernehmen!

Als ob es nicht im Leben - gerade in dem Leben, wo der Mensch keinen Zutritt hat mit seinen Meinungen und das er dadurch nicht verderben kann - viele Gebiete gäbe, wo sich Kräfteströmungen von verschiedenen Seiten her zu einer Einheit verbinden! Nehmen Sie einmal bei dem Menschen, der heranwächst, an: er hat verschiedene Eigenschaften, die er durch Vererbung bekommen hat. Die haften ihm an. Dann hat er gewisse Eigenschaften, die ihm anerzogen werden. Von zwei Seiten her bekommt der heranwachsende Mensch Eigenschaften: durch Vererbung, durch Erziehung. Aber tun Sie etwas, wenn Sie fünfzehn Jahre alt geworden sind, so können Sie nicht sagen, es sei keine Einheit, was Sie tun! Es fließen als eine Einheit zusammen das Ergebnis Ihrer Vererbung und das Ergebnis Ihrer Erziehung. Dadurch lebt eine Einheit drinnen, aber nur dadurch richtig als eine Einheit, daß es von zwei Seiten zusammenströmt. Gerade dadurch wird es eine gesunde Einheit, daß es von zwei Seiten zusammenströmt.

So ergibt sich aus der Wirklichkeit des Lebens für die Idee des sozialen dreigegliederten Organismus, daß eine gesunde Einheit für das Handeln im Wirtschaftlichen nur entsteht, insofern Rechtsbegriffe darinnen inbegriffen werden, dadurch, daß die wirtschaftlichen Maßnahmen aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten selbständig verwaltet werden, und daß auf dem demokratischen Rechtsboden die Rechte geschaffen werden. Die Menschen tragen das dann zu einer Einheit zusammen. Es wirkt zusammen, während Sie, wenn Sie die Rechte aus den Interessen des Wirtschaftens selber heraus entstehen lassen, diese Rechte zu Karikaturen machen. Es ist dann das Recht nur eine Photographie, nur ein Abdruck des wirtschaftlichen Interesses. Es ist das Recht gar nicht da. Nur dadurch, daß Sie das Recht ursprünglich und uranfänglich entstehen lassen auf seinem selbständigen demokratischen Boden, können Sie es hineintragen in das Wirtschaftsleben.

Man sollte glauben, dies wäre so ohne weiteres klar, daß man es eigentlich nicht weitläufig auseinanderzusetzen brauchte. Aber unsere Zeit hat gerade das Eigentümliche, daß die klarsten Wahrheiten durch das neuere Leben verdunkelt worden sind und daß man eigentlich die klarsten Wahrheiten verzerrt. Man denkt heute auf dem Boden, auf dem sich viele sozialistische Anschauungen entwickeln, die Abhängigkeit des Rechtslebens von dem Wirtschaftsleben müsse gerade fortgesetzt werden. Ich habe Ihnen gestern angedeutet, wie eine Art Hierarchie begründet werden soll nach politischem Muster, und wie das Wirtschaftsleben danach geregelt und verwaltet werden soll. Da, denkt man, werden diejenigen, die das Wirtschaftsleben verwalten, schon so nebenbei auch die Rechte entwickeln. Man hat, indem man das behauptet, keinen Sinn für das konkrete, wirkliche Leben. Nicht das Wirtschaftsleben, in dem man vor allen Dingen tüchtig zu sein hat für die Gestaltung der Produktionsverhältnisse, kann die Rechtsverhältnisse hervorbringen, sondern diese müssen neben dem Wirtschaftsleben aus ihrer eigenen Quelle hervorgebracht werden. Sie werden niemals bloß aus dem Nachdenken hervorgebracht, sondern dadurch, daß sich konkret neben dem Wirtschaftskreislauf ein staatliches Element entwickelt, in dem der einzelne individuelle Mensch dem anderen individuellen Menschen gegenübersteht.

Es handelt sich ja nicht darum, daß man aus irgendeinem ursprünglichen Bewußtsein heraus als Wirtschafter auch Rechtsgesetze hervorbringt, sondern darum, daß man erst den konkreten Boden schafft, auf dem die Menschen durch ihre Gefühle in solche Verhältnisse kommen, daß sie diese Verhältnisse in rechtliche Verhältnisse umgestalten können. Es handelt sich darum, daß man eine Realität schafft neben dem Wirtschaftsleben. Dann wird nicht das Recht ein bloßer Überbau über dem Wirtschaftsleben sein, sondern dann wird das Recht dastehen als eine selbständig sich gestaltende Wesenheit. Dann wird man nicht durch eine theoretische Antwort den Grundirrtum, den Aberglauben der sozialen Frage überwinden, als ob man nur das Wirtschaftsleben umzugestalten brauchte, um zu anderen Rechtsbegriffen zu kommen, dann wird man die Realität im dreigegliederten sozialen Organismus einfach dadurch schaffen, daß man den selbständigen Rechtsboden schafft, die Realität, aus der heraus durch Menschenverkehr und Menschenbeziehung diejenige starke Stoßkraft des Rechtslebens entsteht, die das Wirtschaftsleben meistern kann.