Demokratie den Trusts unterlegen

Quelle: GA 332a, S. 017-019, 2. Ausgabe 1977, 24.10.1919, Zürich

Nehmen wir einmal dasjenige, was eine Persönlichkeit gesprochen hat vor nicht allzulanger Zeit - und oft und oft -, die mitten drinnenstand im tätigen politischen, im Staatsleben der heutigen Zeit, die hervorgegangen ist aus dem Geistesleben der heutigen Zeit. Diejenigen der verehrten Zuhörer, die mich bei früheren Vorträgen hier gehört haben, werden nicht mißverstehen, was ich nun sagen werde, denn in den Zeiten, als Woodrow Wilson von aller Welt außerhalb der mitteleuropäischen anerkannt wurde als eine Art Weltdirigent, da habe ich mich immer wieder und wiederum gegen diese Anerkennung ausgesprochen. Und diejenigen, die mich gehört haben, die wissen, daß ich niemals ein Anhänger, sondern stets ein Gegner des Woodrow Wilson war. Auch in der Zeit, als selbst Deutschland dem Wilson-Kultus verfiel, habe ich nicht zurückgehalten mit dieser Anschauung, die ich hier auch in Zürich immer wieder geltend gemacht habe. Aber heute, wo es gewissermaßen mit diesem Kultus vorüber ist, kann etwas gesagt werden, was besonders einem Wilson-Gegner nicht übelgenommen zu werden braucht.

Dieser Mann hat aus einem eindringlichen Empfinden der sozialen Zustände Amerikas, wie sie sich herausgebildet haben seit dem Sezessions- und Bürgerkrieg der sechziger Jahre, gerade empfunden, wie die Staats-, die Rechtsverhältnisse stehen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen. Er hat mit einem gewissen unbefangenen Blick gesehen, wie sich durch die komplizierte neuere Wirtschaftsordnung die großen Zusammenhäufungen der Kapitalmassen herausgebildet haben. Er hat gesehen, wie sich die Trusts, wie sich die großen Kapitalgesellschaften gegründet haben. Er hat gesehen, wie selbst in einem demokratischen Staatswesen das demokratische Prinzip immer mehr und mehr geschwunden ist gegenüber den Geheimverhandlungen jener Gesellschaften, die am Geheimnis ihr Interesse hatten, jener Gesellschaften, die mit den angehäuften Kapitalmassen sich große Macht erwarben und große Menschenmassen beherrschten. Und er hat immer wieder und wieder seine Stimme erhoben für die Freiheit der Menschen gegenüber jener Machtentfaltung, die aus Wirtschaftsverhältnissen heraus kommt. Er hat aus einer tief menschlichen Empfindung heraus - das darf gesagt werden - gefühlt, wie zusammenhängt mit dem einzelnsten Menschen, was soziale Tatsache ist, mit der Art und Weise, wie der einzelne Mensch zu diesem sozialen Leben reif ist. Er wies darauf hin, wie es für die Gesundung des sozialen Lebens darauf ankommt, daß unter jedem menschlichen Kleide ein frei gesinntes menschliches Herz lebt. Er wies immer wieder und wieder darauf hin, wie das politische Leben demokratisiert werden müsse, wie abgenommen werden müsse den einzelnen Machtgesellschaften diese Macht und die Machtmittel, die sie haben, wie die individuellen Fähigkeiten und Kräfte jedes Menschen, der sie hat, zugelassen werden müssen zum allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und Staatsleben überhaupt. Er hat es eindringlich ausgesprochen, daß sein Staatswesen, das er offenbar als das fortgeschrittenste ansieht, leidet unter den Verhältnissen, die sich ausgebildet haben.

Warum? Ja, neue wirtschaftliche Verhältnisse sind heraufgezogen; große wirtschaftliche Kapitalzusammendrängungen, wirtschaftliche Machtentfaltung. Alles überflügelt auf diesem Gebiete das, was noch vor kurzem da war. Ganz neue Formen des menschlichen Zusammenlebens brachte diese Wirtschaftsgestaltung herauf. Man steht einer vollständigen Neugestaltung des wirtschaftlichen Lebens gegenüber. Und nicht ich - aus irgendeiner Theorie heraus -, sondern dieser Staatsmann, man darf sagen, dieser «Weltstaatsmann», er hat es ausgesprochen: Der Grundschaden der neueren Entwickelung liegt darinnen, daß zwar die wirtschaftlichen Verhältnisse fortgeschritten sind, daß die Menschen sich das wirtschaftliche Leben nach ihren geheimen Machtverhältnissen gestaltet haben, daß aber die Ideen des Rechtes, die Ideen des politischen Gemeinschaftslebens nicht nachgekommen sind, daß sie auf einem früheren Standpunkte zurückgeblieben sind. Woodrow Wilson hat es deutlich ausgesprochen: Wir wirtschaften mit neuen Verhältnissen, aber wir denken, wir geben Gesetze über das Wirtschaften von einem Gesichtspunkt, der längst überholt ist, der ein alter ist. Nicht so wie im Wirtschaftsleben hat sich ein Neueres herausgebildet auf dem Gebiete des Rechtslebens, des politischen Lebens; diese sind zurückgeblieben. Mit alten politischen, mit alten Rechtsideen leben wir in einer vollständig neuen Wirtschaftsordnung darinnen. - So spricht es ungefähr Woodrow Wilson aus. Und eindringlich sagt er: Unter dieser Inkongruenz zwischen Rechtsleben und Wirtschaftsleben, da kann sich nicht das entwickeln, was der gegenwärtige Zeitpunkt der menschlichen Entwickelungsgeschichte fordert: daß der einzelne nicht für sich, sondern zum Wohle der Gemeinschaft arbeitet. Und eine eindringliche Kritik übt Woodrow Wilson an der Gesellschaftsordnung, die ihm unmittelbar vorliegt.