Demokratie als Teilwahrheit der Dreigliederung

Quelle: GA 329, S. 218-220, 1. Ausgabe 1985, 14.10.1919, Bern

Ein solcher dreigliedriger sozialer Organismus könnte, wie ich meine, am leichtesten - verzeihen Sie, daß ich alle diese Sachen spreche, besonders für diejenigen, die nicht vollständig drinnenstehen in diesen Dingen, aber ich möchte es dennoch aussprechen -, er könnte ganz besonders stark hier in diesem Lande, das mit Recht stolz ist auf seine alte Demokratie, verwirklicht werden. Denn weil hier gerade das demokratische Element ausgebildet ist, hat man es hier am leichtesten einzusehen, in welcher Weise der Weg gefunden werden soll, das Geistesleben und das Wirtschaftsleben auf beiden Selten in entsprechender Weise abzulösen. - In einer weitergehenden Entwickelung kam die Dreigliederungsidee herauf. Meint man es mit diesen Ideen ernst, so glaube ich, wird man gerade dann, wenn man in einem demokratischen Gemeinwesen lebt, verstehen, es leichter haben mit dem Verständnis, was für die Dreigliederung des sozialen Organismus notwendigerweise geschehen kann. Sonst wird diese Dreigliederung des sozialen Organismus von links und von rechts, von allen Seiten angegriffen. Und während es gerade darauf hinauslaufen soll, ernst und ehrlich es mit der sozialen Frage zu meinen, ist es so gekommen, daß ich zum Beispiel persönlich am allerunflätigsten angegriffen werde gerade von den Führern der sozialistischen Parteien aller Schattierungen. Aber dasjenige, um was es sich handelt, ist eben, daß drei große Ideen, die nur ernst und ehrlich gemeint sein sollen, heraufgekommen sind in der Menschheitsentwickelung. Die eine Idee ist die vom Liberalismus, die andere die von der Demokratie, die dritte ist die vom Sozialismus. Man wird, wenn man es ehrlich mit diesen drei Ideen meint, nicht alle drei durcheinandermischen können, oder die eine durch die andere beseitigen lassen können, sondern man wird sich sagen müssen: vom selbständigen Geistesleben muß etwas ausstrahlen, was bis in den Kapitalismus, was in den ganzen Organismus hineinflutet. Das ist das freie menschliche Entwickeln, das ist das liberale Element. In dem politischen Staate, im Rechtsleben, muß etwas leben, worinnen alle Menschen gleich sind. Das ist das demokratische Element. Und im Wirtschaftsleben muß das brüderliche Element walten. Das muß die wahre Grundlage einer sozialen Struktur abgeben. Darum handelt es sich. Man sollte nicht dasjenige, was segensvoll zunächst im Laufe der neueren Menschheitsentwickelung heraufgekommen ist als die Folge des Liberalismus, der Demokratie, des Sozialismus, man sollte es nicht einseitig bekämpfen und auch nicht einseitig vertreten; man sollte durchschauen, wie im selbständigen Geistesleben wächst der alles übrige soziale Leben überleuchtende Liberalismus; wie im wirklichen Rechtsstaat wächst die wiederum alles übrige Leben überleuchtende Demokratie, wie in jenem Wirtschafsleben, das sich nur mit Warenerzeugung, Warenzirkulation, Warenkonsum und der dadurch bedingten Feststellung der gerechten Preise befaßt, der wiederum alles durchdringende Sozialismus waltet. Dann, wenn man dieses durchschaut, wird man seine Lebensauffassung heute richtig durchdringen mit der Erkenntnis, daß volle Irrtümer im äußeren Leben weniger schädlich sind, weil sie leichter durchschaut werden können, als halbe oder Viertelswahrheiten.

Das aber, was heute vielfach als soziale Bewegung unter den Menschen existiert, in das fluten herein Viertels-, Drittelswahrheiten. Und indem man sich an das hält, was eine Teilwahrheit ist, glaubt man das ganze Leben zu erfassen. Man sollte aber das ganze Leben nur umfassen wollen auch mit einem lebendigen Zusammenwirken der Wahrheiten. Die ganze volle Wahrheit, sie läßt sich nicht in einer abstrakten Idee und auch nicht in einer abstrakten Wirklichkeit offenbaren. Sie läßt sich nur ergreifen in dem lebendigen Zusammenwirken der Ideen. Dann wird sich aus den halben und Viertelswahrheiten diejenige ganze Wahrheit des Lebens auch auf sozialem Gebiete ergeben können, die notwendig ist. Und man wird einsehen, daß man weniger nötig hat die Bekämpfung der vollen Irrtümer als die Richtigstellungen der halben und Viertelswahrheiten.