Römisches Recht auf Geist übertragen

Quelle: GA 191, S. 080, 2. Ausgabe 1983, 10.10.1919, Dornach

Rom hat zum Beispiel verstanden, in die religiösen Begriffe der Alten die römischen Rechtsbegriffe einzuführen. Derjenige, welcher der Wahrhaftigkeit gemäß zu den alten religiösen Begriffen zurückgeht, der findet nicht in diesen alten religiösen Begriffen die römischen Rechtsbegriffe. Römische Jurisprudenz ist eigentlich hineingegangen in die religiöse Ethik. Es ist im Grunde genommen in der religiösen Ethik - durch dasjenige, was Rom daraus gemacht hat - so, als wenn in der übersinnlichen Welt solche Richter da säßen, wie sie auf unseren Richterstühlen römischer Prägung sitzen und über die menschlichen Handlungen richteten. Ja, wir erleben es sogar, weil die römischen Rechtsbegriffe noch nachwirken, daß da, wo vom Karma die Rede ist, die meisten Menschen, die heute sich zum Karma bekennen, sich die Auswirkung dieses Karma so vorstellen, als wenn irgendeine jenseitige Gerechtigkeit da wäre, welche nach den irdischen Begriffen das, was einer getan hat, belegt mit dieser oder jener Belohnung, dieser oder jener Strafe, ganz nach römischen Rechtsbegriffen. Alle Heiligen und alle überirdischen Wesenheiten leben eigentlich so in diesen Vorstellungen, daß römisch-juristische Begriffe sich in diese überirdische Welt hineingeschlichen haben.

Wer versteht zum Beispiel heute die große Idee des griechischen Schicksals? Einen Ödipus können wir nicht verstehen nach römischjuristischen Begriffen! Dazu ist überhaupt, unter dem Einflusse der römischen Rechtsbegriffe, das Talent dem Menschen ganz verlorengegangen, tragische Größe zu verstehen. Und diese römischen Rechtsbegriffe haben sich in unsere moderne Zivilisation hineingeschlichen, leben überall drinnen; sie haben im wesentlichen zu einer Wirklichkeit dasjenige umgefäIscht, was imaginär ist, nicht imaginativ, sondern imaginär.