Dreigliederung für einige Jahrhunderte richtig

Quelle: GA 192, S. 388-389, 2. Ausgabe 1991, 28.09.1919, Stuttgart

Die Menschen wollen immer absolutistisch die Dinge auffassen, und man freut sich heute schon, wenn die Dinge nicht absolutistisch aufgefaßt werden.

Ich habe neulich eine große Freude gehabt, und zwar dadurch, daß mich ein Mann besuchte in Berlin, der - nun, wie soll ich es nennen die Besprechung der Dreigliederung unter dem Titel «Ein falscher Prophet», in der «Hilfe» gelesen hatte. Ich weiß nicht, ob Sie dieses Elaborat kennen. Das hat also ein Amerikaner gelesen und hat sich gesagt: Wovon in solcher Weise geschrieben wird, da ist etwas dran, da muß ich mich dafür interessieren. - Und er kam dann mit Herrn Pfarrer Rittelmeyer zu mir und setzte auseinander, daß er aus dem ganzen schwächlichen Stil und so weiter entnommen habe, daß man sich für die Sache interessieren müsse. Und unter den Fragen, die er stellte und die alle sehr verständig waren, war auch die folgende, die mich besonders freute: Nun, die Dreigliederung, man kann sie für die jetzige Zeit sehr gut einsehen; man kann einsehen, daß jetzt die Dreigliederung notwendig ist, daß sie an die Stelle des alten Einheitsstaates treten muß. Sind Sie der Meinung, daß nun die Dreigliederung die letzte, endgültige Lösung der sozialen Frage ist? - Das war eine sehr verständige Frage. Ich konnte ihm antworten: Das glaube ich ganz und gar nicht. Sondern im Laufe der Geschichtsentwickelung hat sich in den verflossenen Jahrhunderten ergeben, daß mehr der Einheitsstaat heraufkam. Jetzt ist notwendig geworden durch die Zeitforderung die Dreigliederung. Und es wird wiederum eine Zeit kommen, wo die Dreigliederung überwunden werden muß. Aber das ist nicht die jetzige Zeit, das ist die Zeit in drei bis vier Jahrhunderten. Da wird man wiederum denken müssen, wie man die Dreigliederung ablösen kann. - Das ist der Gegensatz zu dem chiliastischen Denken, der Gegensatz zu dem Denken, das ein tausendjähriges Reich ein für allemal herbeiführen will, dem Denken, das sich sagt: Wir müssen einen gesegneten Zustand der Menschheit herbeiführen, dann ist er eben da, dann kann er bleiben. - So bequem lebt es sich nicht in der Welt. Da ist notwendig, daß dasjenige, was als richtig in einer bestimmten Epoche herbeigeführt wird, wiederum abgelöst wird von dem, was dann für die folgende Epoche das relativ Richtige ist. Das ist es, um was es sich handelt. Das heißt organisch denken im Gegensatz zum mechanischen Denken, das die Gegenwart beherrscht, wo man eigentlich meint, es gibt nun etwas ein für allemal absolut Richtiges. Das eine ist richtig für Stuttgart, das andere für New York, für Australien. Das eine ist richtig für 1919, das andere für 2530. Nein, so bequem macht es die Weltentwickelung den Menschen nicht, daß irgend etwas absolut Richtiges da ist. Die Dinge sind immer richtig für bestimmte Orte und für bestimmte Zeiten. Und man muß konkret aus den Verhältnissen heraus denken.