Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als halbe Wahrheit

Quelle: GA 333, S. 090-092, 2. Ausgabe 1985, 15.09.1919, Berlin

Die Hälfte von großen Wahrheiten wurde vor mehr als hundert Jahren im Westen Europas gesprochen in den Worten, die damals fielen als eine halbe Wahrheit: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, drei Ideale, die den Menschen wahrhaftig tief genug in die Herzen und Seelen geschrieben sein könnten. Aber es waren gewiß nicht dumme und törichte Menschen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts erklärt haben, daß diese drei Ideale sich eigentlich widersprächen: daß Freiheit nicht sein kann, wo absolute Gleichheit herrscht; daß wieder Brüderlichkeit nicht sein kann, wo absolute Gleichheit sein soll. Diese Einwendungen waren richtig, aber nur deshalb, weil sie in einer Zeit aufgetreten sind, wo man hypnotisiert war von dem sogenannten Einheitsstaat. In dem Augenblick, wo man von diesem nicht mehr hypnotisiert sein wird, wo man die notwendige Dreigliederung des sozialen Organismus begreifen wird, da wird man anders sprechen.

Gestatten Sie, daß ich am Schlusse in einen Vergleich zusammenfasse, was ich gerne noch länger ausführen würde. Ich konnte nur gleichsam Fäden zeichnen, in einer Skizze das darstellen, was ich sagen wollte; ich weiß, wie ich lediglich andeuten konnte, was nur bei ausführlicher Darstellung durchschaut und eingesehen werden kann. Aber ich möchte am Schlusse darauf hinweisen, wie der Einheitsstaat wie etwas Hypnotisierendes vor den Menschen stand und sie diesen Einheitsstaat beherrscht sein lassen wollten von den drei großen Idealen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Man wird lernen müssen, daß es anders werden muß. In der Gegenwart sind die Menschen gewohnt, wie einen Gott diesen Einheitsstaat anzuschauen. In der Beziehung ist ihr Verhalten schon so, wie das des Faust dem sechzehnjährigen Gretchen gegenüber. Da erlebt man auch Dinge, die sich ausnehmen wie die Lehren, welche der Faust dem Kinde Gretchen gibt, die angemessen sind dem sechzehnjährigen Gretchen, und die von den Philosophen gewöhnlich als etwas Hochphilosophisches angesehen werden. Da sagt der Faust: «Der Allumfasser, der Allerhalter, faßt und erhält er nicht dich, mich, sich selbst?» Fast ist es so gegenüber dem Einheitsstaate, daß die Menschen auch hypnotisiert sind von diesem Einheitsgötzenbilde und nicht einsehen können, wie dieses Einheitsgebilde dreigliedrig werden muß zum Heile der Menschen in der Zukunft. Und mancher Fabrikant wird ganz gerne mit Bezug auf den Staat zu seinen Arbeitern so reden wie Faust dem Gretchen gegenüber, indem er sagt: Der Staat, der Allerhalter, der Allumfasser, faßt und erhält er nicht sich, dich, mich selbst? - Er müßte sich dann aber rasch die Hand vor den Mund halten und das «mich selbst» nicht zu laut sagen!

Die Notwendigkeit der Dreigliederung des sozialen Organismus muß eingesehen werden, besonders auch in den proletarischen Kreisen. Man wird sie erst einsehen, wenn man wissen wird: die Dreigliederung ist notwendig. Denn nicht geradezu darf in der Zukunft herrschen der Ruf «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» mit den Widersprüchen, die diese drei Ideale gegenseitig enthalten, sondern herrschen wird müssen in der Zukunft im selbständigen Geistesleben Freiheit des Geistes, denn da wird sie berechtigt sein; herrschen wird müssen Gleichheit gegenüber einem jeden mündig gewordenen Menschen im demokratischen Staatswesen, und herrschen wird müssen Brüderlichkeit in dem selbständig verwalteten, die Menschen nährenden und erhaltenden Wirtschaftsleben. In dem Augenblicke wo man diese drei Ideale so auf den dreigliederigen Organismus anwenden wird, werden sie einander nicht mehr widersprechen.

Möge die Zeit kommen, da man wird folgendermaßen charakterisieren können: Wir in Mitteleuropa blicken wahrhaftig mit Schmerzen hin auf das, was durch Versailles geschehen ist. Wir blicken darauf erst als auf einen Ausgangspunkt hin und auf viel Not und viel Elend und Schmerzen, die uns bevorstehen. Möge aber das sich erfüllen, daß man sagen kann: Äußeres können sie uns nehmen, denn Äußeres kann man den Menschen abnehmen. Sind wir aber imstande, zurückzugreifen auf die Jahre, in denen wir unsere Vergangenheit verleugnet haben, zu dem Goetheanismus jener Zeit von der Wende des 18., 19. Jahrhunderts, als die Lessing, Herder, Schiller, Goethe und so weiter für ein anderes Gebiet wirkten - sind wir imstande, zurückzugreifen in unserer Not aus unserer Innerlichkeit heraus zu den großen mitteleuropäischen Gütern, dann wird in der Not der Zeit aus diesem Mitteleuropa heraus der vor einem Jahrhundert in «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» nur halb ertönenden Wahrheit die andere Hälfte entgegentönen; vielleicht in äußerer Abhängigkeit - aber in innerer Freiheit und Unabhängigkeit könnten von Mitteleuropa dann in die Welt hinaustönen die Worte: Freiheit für das Geistesleben, Gleichheit für das demokratische Rechtsleben der Menschen, Brüderlichkeit für das Wirtschaftsleben!

In diese Worte kann man zusammenfassen, wie in einem Signum, was man heute sagen, empfinden und denken muß im Sinne eines umfassenden Ergreifens der sozialen Frage in ihrer Ganzheit. Mögen recht viele Menschen dies erfassen und begreifen; dann wird praktisch sein können, was heute eben eine Frage ist!