Sozialdemokratie als hölzernes Eisen

Quelle: GA 333, S. 081-085, 2. Ausgabe 1985, 15.09.1919, Berlin

Es ist sehr merkwürdig, wie in der neueren Zeit aus der Tiefe der Menschennatur heraus zwei Forderungen aufgestiegen sind: die nach Demokratie und die nach Sozialismus. Beide, Demokratie und Sozialismus, widersprechen einander. Vor der Weltkriegskatastrophe hat man diese zwei widersprechenden Impulse zusammengeschweißt und sogar eine Partei, die Sozialdemokratie, danach benannt. Hölzernes Eisen ist ungefähr dasselbe. Beide, Sozialismus und Demokratie, widersprechen sich, beide sind aber ganz aufrichtige und ehrliche Forderungen der neueren Zeit. Nun ist die Weltkriegskatastrophe an uns vorübergezogen, hat ihre Ergebnisse gebracht, und nun hören wir, wie die soziale Forderung auftritt und nichts wissen will von einem demokratischen Parlament. Wie die soziale Forderung wiederum theoretisch, ohne eine Ahnung zu haben, wie die Tatsachen eigentlich sind, mit Schlagworten ganz abstrakter Art auftritt wie «Erringung der politischen Macht», «Diktatur des Proletariats» und dergleichen, das kommt allerdings aus den Untergründen des sozialistischen Empfindens hervor, beweist aber, daß man jetzt darauf gekommen ist, daß auch das sozialistische Empfinden dem demokratischen Empfinden widerspricht. Die Zukunft, die den Wirklichkeiten des Lebens, nicht den Schlagworten Rechnung zu tragen hat, sie wird erkennen müssen, wie der sozialistisch Fühlende Recht hat, wenn er sozusagen etwas Unheimliches bei «Demokratie» empfindet, und wie anderseits der demokratisch Fühlende Recht hat, wenn er das Furchtbarste empfindet bei den Worten «Diktatur des Proletariats».

Wie liegen auf diesem Gebiete eigentlich die Tatsachen? Da brauchen wir nur das Wirtschaftsleben im Zusammenhange mit dem Staatsleben gerade so zu betrachten, wie wir eben vorher das Geistesleben im Zusammenhange mit dem Staatsleben betrachtet haben. Es war wiederum das Vorurteil der Menschen der neueren Zeit, insbesondere derjenigen, die glaubten, recht fortschrittlich zu denken, daß der Staat immer mehr und mehr zum Wirtschafter werden sollte. Post, Telegraph, Eisenbahn und so weiter wurden in Staatsverwaltung gestellt, und bald wollte man über immer weitere Wirtschaftsgebiete die Staatsverwaltung ausdehnen. Das ist eine weite und umfassende Sache, die ich jetzt mit einigen Worten berühre, und ich muß mich leider - weil ich angewiesen bin, diese Dinge in einem kurzen Vortrage zu entwickeln - der Gefahr aussetzen, daß das, was in sehr sachlichen Worten dargelegt wird und mit unzähligen Beispielen aus der neueren Geschichte belegt werden könnte, als Dilettantismus hingestellt würde. Das ist es aber durchaus nicht. Aber was hier wie ein Vorurteil der Fortgeschrittensten ist, das wird sich gerade dann, wenn man den Sozialismus ernst nimmt, in seiner wahren Gestalt zeigen. Und es wird sich in seiner wahren Gestalt zeigen, wenn man ferner ernst nehmen wird ein Wort, welches aus seinen lichtesten Augenblicken heraus Friedrich Engels in seiner Schrift «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft», ausgesprochen hat. Er sagt ungefähr: Überschaut man das Staatsleben, wie es sich in die Gegenwart herein entwickelt hat, so findet man, daß es die Bewirtschaftung der Produktionszweige, die Leitung der Warenzirkulation, umfaßt. Aber indem der Staat gewirtschaftet hat, hat er zugleich über Menschen regiert. Er gab die Gesetze, nach denen sich zu verhalten haben - ob in ihren wirtschaftlichen Handlungen oder außerhalb derselben - diejenigen Menschen, die im Wirtschaftsleben drinnen stehen. Dieselbe Instanz wirtschaftete - und gab die Gesetze für das Verhalten der Menschen, die im Wirtschaftsleben drinnen stehen. Das muß in Zukunft anders werden.

Dies hat Engels ganz richtig erkannt. In Zukunft darf auf dem Boden, auf dem gewirtschaftet wird, nicht mehr regiert werden über Menschen, meinte Engels; sondern es darf auf diesem Boden nur verwaltet werden, was Produktion ist, und es darf auf ihm nur geleitet werden, was Warenzirkulation ist. Das war eine richtige Anschauung - aber eine halbe Wahrheit oder eigentlich nur eine Viertelswahrheit. Denn wenn das, was an Gesetzen verwirklicht ist auf diesem Wirtschaftsgebiete, das bisher mit dem Staatsleben zusammenfiel, herausgenommen wird aus der Wirtschaftsverwaltung und Wirtschaftsleitung, muß es seinen eigenen Platz erhalten - allerdings nicht einen Platz, von dem aus die Menschen zentralistisch regiert werden, sondern den Platz, wo sie sich selber demokratisch regieren.

Das heißt: Die beiden Impulse, Demokratie und Sozialismus, weisen darauf hin, daß zwei voneinander getrennte Gebiete neben dem selbständigen Geistesglied des sozialen Organismus noch dastehen müssen in dem gesamten sozialen Organismus, nämlich das, was bleibt von dem ehemaligen Staate. Es ist das die Verwaltung des Wirtschaftlichen und die des öffentlichen Rechtes oder mit anderen Worten alles dessen, worüber jeder Mensch urteilsfähig ist, wenn er mündig geworden ist. Denn was liegt in der Forderung nach Demokratie? Es liegt darin, daß die neuere Menschheit geschichtlich reif werden will dafür, auf dem freien Staatsboden, auf dem freien Rechtsboden gesetzmäßig dasjenige zu verwalten, worin alle Menschen einander gleich sind, worüber also jeder mündig gewordene Mensch neben jedem anderen mündig gewordenen Menschen mittelbar oder unmittelbar - mittelbar durch Vertretung, unmittelbar durch irgendein Referendum - entscheiden kann. So müssen wir in Zukunft einen selbständigen Rechtsboden haben, der die Fortsetzung des alten Macht- und Gewaltstaates sein wird, und der erst der wahre Rechtsstaat sein wird. Niemals wird ein wahrer Rechtsstaat anders entstehen, als daß in ihm nur diejenigen Angelegenheiten durch Gesetze geregelt werden, über die jeder mündig gewordene Mensch urteilsfähig ist, und zu diesen Angelegenheiten gehört wieder etwas, worüber das Proletariat viel gesprochen hat, wo aber seine Worte wieder genommen werden müssen als das soziale Thermometer. Denn wieder hat in das Gemüt des Proletariats tief eingeschlagen ein Wort von Karl Marx:

Es gibt ein menschenunwürdiges Dasein, wenn der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt seine Arbeitskraft wie eine Ware verkaufen muß. Denn wie man eine Ware bezahlt mit dem Warenpreis, so bezahlt man die Arbeitskraft wie gleichwertig mit der Ware durch den Lohn, durch den Preis für die Ware Arbeitskraft!

Das war ein Wort, nicht so sehr bedeutungsvoll in der Entwicklung der neueren Menschheit durch seinen sachlichen Inhalt, als durch das blitzartige Einschlagen in das Proletariat, jenes blitzartige Einschlagen, von dem sich die führenden Kreise eigentlich keine Vorstellung machen. Und woher rührt dies Ganze? Es rührt davon her, daß in den Wirtschaftskreislauf, das heißt in die Warenerzeugung, in die Warenzirkulation und Warenkonsumation, die einzig in den Wirtschaftskreislauf hineingehören, in chaotischer, in unorganischer Weise auch hineingestellt ist die Regelung der Arbeit nach Maß, nach Zeit, nach Charakter usw. Und nicht eher wird Heil auf diesem Gebiete, bis aus dem Wirtschaftskreislauf Charakter, Maß und Zeit der menschlichen Arbeit herausgehoben ist, ob sie geistige, ob sie physische Arbeit ist. Denn die Regelung der Arbeitskraft gehört nicht in das Wirtschaftsleben hinein, wo derjenige, welcher der wirtschaftlich Mächtigere ist, eben auch die Macht hat, die Art der Arbeit dem wirtschaftlich Schwachen aufzudrängen. Die Regelung der Arbeit von Mensch zu Mensch, was ein Mensch für den anderen arbeitet, das gehört geregelt auf dem Rechtsboden, da, wo jeder mündig gewordene Mensch jedem andern mündig gewordenen Menschen als gleicher gegenübersteht. Wieviel ich für den andern zu arbeiten habe, darüber dürfen nicht wirtschaftliche Voraussetzungen entscheiden, sondern einzig und allein das, was in dem zukünftigen Staate, der der Rechtsstaat ist, gegenüber dem heutigen Machtstaat, sich entwickeln wird.

Auch da begegnet man wieder einem Bündel von Vorurteilen, indem man dergleichen ausspricht. Heute ist es billig, wenn die Leute sagen: Solange die Wirtschaftsordnung durch die Verhältnisse des freien Marktes gegeben ist, solange wird es selbstverständlich sein, daß die Arbeit von der Produktion abhängt, davon, wie die Waren bezahlt werden. Wer aber glaubt, daß es so bleiben müsse, sieht nicht ein, wie geschichtlich ganz andere Forderungen heraufziehen. In Zukunft wird man sagen müssen:

Wie töricht wäre es, wenn die Menschen, die irgendeinen Betriebszweig zu verwalten haben, sich zusammensetzten und die Kontobücher des Jahres 1918 nähmen und sagten: Da haben wir so und soviel erzeugt, wir müssen in diesem Jahre auch soviel erzielen. Jetzt ist es September, wir brauchen also, um das zu erreichen, noch so und so viele Tage, wo es regnet, und so und soviele, wo Sonnenschein sein muß, und so weiter. - Man kann nicht der Naturgrundlage vorschreiben, daß sie sich nach den Preisen richten soll, sondern man muß die Preise nach der Naturgrundlage einrichten. Auf der einen Seite wird das Wirtschaftsleben an die Naturgrundlage grenzen, auf der anderen Seite an den Rechtsstaat, wo auch die Arbeit geregelt werden wird. Da wird aus rein demokratischen Grundlagen heraus festzustellen sein, wie lange der Mensch zu arbeiten habe, und danach werden sich die Preise bestimmen - das heißt nach den Naturgrundlagen, so wie heute nach den Naturgrundlagen die Preise in der Landwirtschaft bestimmt werden. Es handelt sich nicht darum, daß man über die Verbesserung kleiner Einrichtungen nachdenkt; es handelt sich darum, daß man umdenken und umlernen muß. Erst wenn auf dem selbständig demokratischen Gemeinboden, wo der eine Mensch dem andern als Mündiggewordener, als Gleicher dem Gleichen gegenübersteht, über die Arbeitskraft geurteilt wird, und wenn der Mensch als freier Mensch diese Arbeit in das selbständige Wirtschaftsleben hineinträgt, wo nicht Arbeitsverträge, sondern Verträge über die Erzeugung geschlossen werden, erst dann wird aus dem Wirtschaftsleben weichen, was heute Unruhe erzeugend darin ist. Das muß durchschaut werden.