Waldorfschule als verwaltungs- statt regierungsmäßige Republik

Quelle: GA 300a, S. 061-062, 4. Ausgabe 1975, 20.08.1919, Stuttgart

Die Waldorfschule muß eine wirkliche Kulturtat sein, um eine Erneuerung unseres Geisteslebens der Gegenwart zu erreichen. Wir müssen mit Umwandlung in allen Dingen rechnen; die ganze soziale Bewegung geht ja zuletzt auf Geistiges zurück, und die Schulfrage ist ein Unterglied der großen geistigen brennenden Fragen der Gegenwart. Die Möglichkeit der Waldorfschule muß dabei ausgenützt werden, um reformierend, revolutionierend im Schulwesen zu wirken.

Das Gelingen dieser Kulturtat ist in ihre Hand gegeben. Viel ist damit in Ihre Hand gegeben, um, ein Muster aufstellend, mitzuwirken. Viel hängt davon ab, daß diese Tat gelingt. Die Waldorfschule wird ein praktischer Beweis sein für die Durchschlagskraft der anthroposophischen Weltorientierung. Sie wird eine Einheitsschule sein in dem Sinne, daß sie lediglich darauf Rücksicht nimmt, so zu erziehen und zu unterrichten, wie es der Mensch, wie es die menschliche Gesamtwesenheit erfordert. Alles müssen wir in den Dienst dieses Zieles stellen.

Aber wir haben es nötig, Kompromisse zu schließen. Kompromisse sind notwendig, denn wir sind noch nicht so weit, um eine wirklich freie Tat zu vollbringen. Schlechte Lehrziele, schlechte Abschlußziele werden uns vom Staat vorgeschrieben. Diese Ziele sind die denkbar schlechtesten, und man bildet sich das denkbar Höchste auf sie ein. Die Politik, die politische Tätigkeit von jetzt wird sich dadurch äußern, daß sie den Menschen schablonenhaft behandeln wird, daß sie viel weitergehend als jemals versuchen wird, den Menschen in Schablonen einzuspannen. Man wird den Menschen behandeln wie einen Gegenstand, der an Drähten gezogen werden muß, und wird sich einbilden, daß das einen denkbar größten Fortschritt bedeutet. Man wird unsachgemäß und möglichst hochmütig solche Dinge einrichten, wie es Erziehungsanstalten sind. Ein Beispiel und Vorgeschmack davon ist die Konstruktion der russischen bolschewistischen Schulen, die eine wahre Begräbnisstätte sind für alles wirkliche Unterrichtswesen. Wir werden einem harten Kampf entgegengehen und müssen doch diese Kulturtat tun.

Zwei widersprechende Kräfte sind dabei in Einklang zu bringen. Auf der einen Seite müssen wir wissen, was unsere Ideale sind, und müssen doch noch die Schmiegsamkeit haben, uns anzupassen an das, was weit abstehen wird von unseren idealen. Wie diese zwei Kräfte in Einklang zu bringen sind, das wird schwierig sein für jeden einzelnen von ihnen. Das wird nur zu erreichen sein, wenn jeder seine volle Persönlichkeit einsetzt. Jeder muß seine volle Persönlichkeit einsetzen von Anfang an.

Deshalb werden wir die Schule nicht regierungsgemäß, sondern verwaltungsgemäß einrichten und sie republikanisch verwalten. In einer wirklichen Lehrerrepublik werden wir nicht hinter uns haben Ruhekissen, Verordnungen, die vom Rektorat kommen, sondern wir müssen hineintragen (in uns tragen?) dasjenige, was uns die Möglichkeit gibt, was jedem von uns die volle Verantwortung gibt für das, was wir zu tun haben. Jeder muß selbst voll verantwortlich sein.

Ersatz für eine Rektoratsleistung wird geschaffen werden können dadurch, daß wir diesen Vorbereitungskurs einrichten und hier dasjenige arbeitend aufnehmen, was die Schule zu einer Einheit macht. Wir werden uns das Einheitliche erarbeiten durch den Kurs, wenn wir recht ernstlich arbeiten.