Gleichheit und Brüderlichkeit durch Freiheit des Geistes

Quelle: GA 330, S. 380-382, 2. Ausgabe 1983, 11.07.1919, Stuttgart

Durchdringen sich die Menschen ganz mit der westlichen Mechanisierung des Geistes, dann wird sich verbinden mit dieser westlichen Mechanisierung des Geistes die östliche Animalisierung, das heißt die Entstehung von sozialen Forderungen bloß in Form animalischer Instinkte und wüster Triebe. Beides hängt zusammen. In der Mitte steckt die Vegetarisierung, das heißt die Schläfrigkeit des Seelenlebens, das nicht erweckt werden will durch das Betreten des Geistweges. Das ist die eine Perspektive, die da ist. Die Menschheit wird sich zu entscheiden haben, ob sie eintreten will in diese Perspektive zur Mechanisierung des Geistes, zur Vegetarisierung der Seele und zur Animalisierung des Leibes, oder ob sie den anderen Weg betreten will. In Not und Elend werden wir uns wohl zu dem anderen Wege bequemen können. Und dieser andere Weg wird uns, trotzdem die anderen die Macht haben, nicht verlegt werden können, der Weg des Geistes.

Wir müssen ihn nur betreten wollen. Wir müssen unseren Geist nur freihalten wollen selbst gegenüber der Knechtschaft unserer Leiber. Wir werden uns nur entschließen müssen, aus den Gefühlen und Empfindungen, die uns durch das Bewußtsein vom übersinnlichen Menschen und der übersinnlichen Welt werden können, uns auf uns selbst zu stellen in geistig-seelischer Beziehung. Dann werden die anderen uns nichts anhaben können. Dann wird sich vielleicht doch das zeigen, was ich mit den Worten aussprechen möchte: Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts haben wir es in Mitteleuropa leider dahin gebracht, die westlichen Völker nachzumachen, auch da, wo in der Zivilisation des Westens kein Grund dazu vorlag. Vielleicht werden wir durch Not und Elend, gerade durch die Macht, die sie über uns haben, den Weg finden, um das nicht aufzunehmen, was wir leider freiwillig aufgenommen haben, da wir es ihnen nachmachten. Jetzt, wo sie uns die Mechanisierung des Geistes durch ihre Macht werden vormachen wollen, da finden wir die Stärke in diesem alten Mitteleuropa, das an große Zeiten anknüpfen kann, da finden wir, mögen wir finden die Stärke, im innersten Menschen den Weg des Geistes zu gehen. Dann werden wir vermeiden die materialistische Mechanisierung des Geistes und werden zu dem kommen, was ich versuchte zu charakterisieren schon im Anfang der neunziger Jahre in meiner «Philosophie der Freiheit». Dann werden wir durch den befreiten Geist zu einem wirklichen Schauen der geistigen Welt kommen. Dann werden wir den Weg finden, gerade durch den Geist, zur Gleichheit der Menschen. Denn nimmermehr kann nur in der äußeren ökonomischen Ordnung Menschengleichheit sein.

Wenn aber der Mensch sich zu erfassen vermag in seiner übersinnlichen Natur als beseeltes Geistwesen, dann wird er dazu kommen, auch das Recht zu finden, das ihn zum Gleichen unter Gleichen macht. Dann wird er seine Wissenschaft vertiefen; denn aus demjenigen, was ich Ihnen heute angedeutet habe, kann Medizin, kann Rechtswissenschaft, kann Erziehungskunst erst ihre richtigen Quellen schöpfen. Dann wird von der Wissenschaft nicht dasjenige ausströmen, was zur Mechanisierung des Geistes führt wie bisher, was zur Ungleichheit der Menschen führt wie bisher, sondern dann wird von dem, was der Geist auf Geisteswegen sucht, volle Geistesfreiheit des Menschen kommen. Dann wird von dem, was der Geist auf Seelenwegen sucht, die menschliche Gleichheit der beseelten Menschen kommen, und dann, wenn der sich selbst als übersinnlichen, als Geistesmensch erfassende Mensch liebend den anderen Menschen gegenübersteht, dann wird einziehen in das soziale Leben, weil die Menschen bewußt als geistige Wesen in Liebe miteinander verkehren werden, dann wird herrschen in der Menschennatur neben dem befreiten Geiste, neben der andern gleichen Seele die wahre geistdurchdrungene, beseelte, allmenschliche Brüderlichkeit!