Demokratische durch soziale Frage verändert

Quelle: GA 024, S. 202-203, 2. Ausgabe 1982, 07.1919

Unter den bedeutsamen Fragen, die in der Gegenwart, aus der Weltkriegskatastrophe heraus, die Umwandlung in ganz neue Formen durchmachen, ist die der Demokratie. Daß Demokratie restlos das Völkerleben durchdringen muß, sollte eine selbstverständliche Erkenntnis für alle sein, die einen offenen Sinn für das geschichtlich Gewordene haben. Die Weltkriegskatastrophe hat die Unmöglichkeit einer Weiterentwickelung alles dessen erwiesen, was der Demokratie widerstrebt. Alles Anti-Demokratische hat sich selbst in die Vernichtung hineingeführt. Für diejenigen, welche in irgendeiner Form an Wiederaufrichtung eines solchen Anti-Demokratischen denken, wird es sich nur darum handeln können, daß ihrer Einsicht das als Beweis aufgeht, was die Wirklichkeit mit Strömen von Blut bewiesen hat.

Aber die Frage, wie ist Demokratie zu verwirklichen, fordert gegenwärtig eine Stellungnahme heraus, die in verflossenen Zeiten nicht in derselben Art da sein konnte. Bevor die soziale Bewegung in das geschichtliche Stadium eingetreten war, in dem sie heute ist, konnte man über Demokratie anders denken, als man es jetzt muß. Die Frage wird immer drängender: Wie kann die soziale Bewegung dem demokratischen Leben einverleibt werden?

Es kann sich gegenwärtig wahrlich nicht darum handeln, in unbestimmten politischen Forderungen sich auszuleben und aus dem heraus, was einseitige Lebensinteressen dieser oder jener Menschengruppen als solche Forderungen in ganz begreiflicher Weise erheben, politische Ideale zu formen. Ein wirkliches Verständnis des sozialen Organismus wird mit jedem Tage notwendiger.

Es waren nicht immer bloß die Knechte des Kapitalismus, in deren Seele die Sorge sich einnistete, wenn sie daran dachten, was werden soll, wenn die soziale Welle das neuzeitliche Leben überfluten werde. Neben den allerdings in der Mehrzahl sich geltend machenden Egoisten waren vereinzelte ehrliche Persönlichkeiten, die in der Form, welche diese Welle annahm, gerade eine Gefahr für den wahren Demokratismus sahen. Wie soll noch eine wahrhaftige Entfaltung der menschlichen Individualitäten möglich sein, wenn alles geistige Leben auch in der Lebenspraxis ein ideologischer Überbau des Wirtschafslebens wird, wie es ein solcher im Denken derjenigen geworden ist, welche die soziale Gestaltung des Lebens von der Durchdringung aller Menschen mit materialistischer Geschichtsauffassung abhängig machen? Denn ohne die freie Entfaltung der menschlichen Individualitäten möglich zu machen, wird eine sozialistische Lebensgestaltung die Kultur nicht herausholen aus ihrem kapitalistischen Gefängnis, sondern sie zum Absterben ohne die Aussicht auf Neubelebung bringen.

Wer die Forderungen, welche in der sozialen Bewegung liegen, nicht nach den Interessen beurteilt, die sich aus seiner bisherigen Lebenslage ergeben, sondern wer vermag, in ihnen eine geschichtliche Notwendigkeit zu sehen, der nicht zu entgehen ist, vor den stellt sich mit größtem Ernste die Frage hin: Wie können diese Forderungen erfüllt werden, ohne zur Unterdrückung der individuellen menschlichen Begabungen zu führen, auf deren freier Entfaltung auch in der Zukunft alle Lebensentwickelung beruhen muß? In einer auf kapitalistische Wirtschafsformen gegründeten gesellschaftlichen Lebensordnung war Demokratisierung etwas anderes, als sie wird sein müssen in einer von sozialen Impulsen durchtränkten.