Arbeitsrecht durch Gesetz als Staatsprinzip

Quelle: GA 331, S. 166-168, 1. Ausgabe 1989, 24.06.1919, Stuttgart

Weil also alles im Wirtschaftsleben auf Leistung und Gegenleistung beruhen muß und weil diese beiden von verschiedenen Dingen abhängig sind, muß im Wirtschaftsleben alles beruhen auf dem Vertragsprinzip.

Wir müssen in Zukunft Genossenschaften, Assoziationen im Wirtschaftsleben haben, welche ihre gegenseitigen Leistungen und Gegenleistungen gründen auf das Vertragsprinzip, auf die Verträge, die sie miteinander schließen. Dieses Vertragsprinzip muß das ganze Leben und insbesondere das Leben innerhalb der Konsumgenossenschaften, Produktionsgenossenschaften und Berufsgenossenschaften beherrschen. Ein Vertrag ist immer irgendwie befristet. Wenn keine Leistungen mehr erbracht werden, dann hat er keinen Sinn mehr, dann verliert er seinen Wert. Darauf beruht das ganze Wirtschaftsleben.

Auf etwas fundamental anderem beruht das Rechtsleben. Es beruht darauf, daß in demokratischer Weise alle diejenigen Maßnahmen getroffen werden, durch die jeder Mensch mit Bezug auf die Menschenrechte jedem anderen gleich ist. Zu den Menschenrechten gehört auch das Arbeitsrecht. Dafür kann jeder mündig gewordene Mensch eintreten. Jeder Mensch, der mündig geworden ist, kann teilnehmen - entweder direkt auf dem Wege eines Referendums zum Beispiel oder indirekt durch Wahl beziehungsweise durch eine Volksvertretung - an der Festsetzung derjenigen Rechte, die unter gleichen Menschen zu herrschen haben. Daher herrscht auf dem Rechts- oder Staats- oder politischen Boden nicht der Vertrag, sondern das Gesetz. Gesetze werden in der Zukunft zum Beispiel auch die Arbeitsverhältnisse regeln. So werden durch Gesetze festgelegt sein Zeit, Maß und Art der Arbeit, während das, was darin innerhalb der gesetzlich festgelegten Arbeitszeit zu leisten ist, durch Verträge innerhalb des Wirtschaftskörpers geregelt wird.

Von ganz anderer Art ist wiederum das Geistesleben. Das Geistesleben beruht darauf, daß in ihm die Menschheit ihre Fähigkeiten entwickeln kann für das Staats- und Wirtschaftsleben. Das ist aber nur möglich, wenn man im Geistesleben die Grundlage dafür schafft, daß man die sich entwickelnden menschlichen Fähigkeiten, die ja dem Menschen nicht mit der Geburt einfach gegeben sind, sondern erst entfaltet werden müssen, sachgemäß zur Entwicklung, zur Entfaltung bringt. Es würde ein großer Irrtum sein, wenn man glaubt, daß die geistigen und auch die physischen Fähigkeiten - letztere sind ja im Grunde genommen gleichwertig den geistigen - auf dieselbe Weise erkannt und gepflegt werden könnten wie die staatlichen und wirtschaftlichen Dinge. Das, was sich zum Beispiel auf Erziehung und Unterricht bezieht, das kann weder beruhen auf Verträgen noch auf Gesetzen oder Verordnungen, sondern es muß beruhen auf Ratschlägen, die gegeben werden zur Entwicklung der Fähigkeiten.

Ja, diese drei Lebensgebiete, das Geistesleben, das Rechtsleben und das Wirtschaftsleben sind doch sehr verschieden, so daß ihre Vermischung nicht nur eine völlige Unmöglichkeit ist, sondern für die menschliche Entwicklung ein großes Unheil bedeutet.