Vertrag als Prinzip des Wirtschaftslebens

Quelle: GA 331, S. 165-168, 1. Ausgabe 1989, 24.06.1919, Stuttgart

Sehen Sie, Sie können am leichtesten die Notwendigkeit der Gliederung des bisher verfehlten Einheitsstaates in die drei Glieder einsehen, wenn Sie erkennen, wie sich alles im Wirtschaftsleben unterscheidet vom eigentlich staatlichen und geistigen Leben. Im Wirtschaftsleben ist alles einerseits den Naturbedingungen unterworfen. Diese sind mal so, mal so und unterliegen Veränderungen. Auch spielt die Bevölkerungszahl eine Rolle. Dann hängt im Wirtschaftsleben alles davon ab, daß sich die Menschen in gewisse Berufszweige, Berufsstände gliedern. Ferner ist im Wirtschaftsleben ein individueller, ein persönlicher Faktor enthalten, das ist die Summe der menschlichen Bedürfnisse. Nicht wahr, es ist ja leicht einzusehen, daß die Summe der menschlichen Bedürfnisse die Menschen zu einer Art Maschine des gesellschaftlichen Lebens machen würde, wenn man irgendwie regeln wollte die Bedürfnisse des einzelnen. Daher finden Sie ja auch in der sozialistischen Anschauung und schon bei Marx deutlich ausgesprochen, daß im wirklichen sozialistischen Gemeinwesen eine Normierung, eine Regelung der Bedürfnisse des einzelnen nicht stattfinden soll. Der eine hat die Bedürfnisse, ein anderer jene, und es kann nicht darum gehen, daß man von irgendeiner Zentralstelle aus den Menschen vorschreibt, welche Bedürfnisse sie haben sollen, sondern darum, daß man aus dem Leben heraus die Bedürfnisse ergründet und durch die Produktion dafür sorgt, daß die Bedürfnisse wirklich befriedigt werden können.

Wenn man so das ganze Wirtschaftsleben überblickt, dann wird man schon darauf kommen, daß im Wirtschaftsleben alles beruhen muß auf dem Vertragsprinzip. Alles das, was das Wirtschaftsleben ausmacht, beruht ja, oder soll innerhalb eines sozialen Gemeinwesens beruhen, auf Leistung und Gegenleistung. Diese Tatsache liegt ja heute auch den Forderungen der Proletarier zugrunde, da man festgestellt hat, daß dieser Tatsache heute noch keineswegs Rechnung getragen wird, nämlich daß der Leistung eine Gegenleistung entsprechen muß. Heute herrscht immer noch das Prinzip vor, daß man aus der Menschenarbeit dasjenige herausholt, was man für sich braucht oder zu brauchen glaubt, ohne daß man dafür eine Gegenleistung zu liefern braucht. Daher kommt heute in den Forderungen der proletarischen Massen zum Ausdruck, daß es in Zukunft nicht mehr die Möglichkeit geben soll, daß man seine Bedürfnisse aus den Leistungen der arbeitenden Bevölkerung befriedigt, ohne daß diese eine Gegenleistung erhält. Man muß sich darüber im klaren sein, daß es im Wirtschaftsleben immer auf die konkreten Verhältnisse ankommt, also auf die Naturbedingungen, die Art der Berufe, die Arbeit, die Leistung. Man kann nur wirtschaften, wenn man Zusammenhänge herstellt zwischen den verschiedenen Arten von Leistungen. Es kann nicht immer alles in gleicher Weise verwertet werden, was heute geleistet wird. Es müssen auch Leistungen, die erst in der Zukunft erbracht werden, vorausgesehen werden. Ja, man müßte da noch vieles sagen, wenn man das Wirtschaftsleben in dieser Weise vollständig charakterisieren wollte.

Weil also alles im Wirtschaftsleben auf Leistung und Gegenleistung beruhen muß und weil diese beiden von verschiedenen Dingen abhängig sind, muß im Wirtschaftsleben alles beruhen auf dem Vertragsprinzip. Wir müssen in Zukunft Genossenschaften, Assoziationen im Wirtschaftsleben haben, welche ihre gegenseitigen Leistungen und Gegenleistungen gründen auf das Vertragsprinzip, auf die Verträge, die sie miteinander schließen. Dieses Vertragsprinzip muß das ganze Leben und insbesondere das Leben innerhalb der Konsumgenossenschaften, Produktionsgenossenschaften und Berufsgenossenschaften beherrschen. Ein Vertrag ist immer irgendwie befristet. Wenn keine Leistungen mehr erbracht werden, dann hat er keinen Sinn mehr, dann verliert er seinen Wert. Darauf beruht das ganze Wirtschaftsleben.

Auf etwas fundamental anderem beruht das Rechtsleben. Es beruht darauf, daß in demokratischer Weise alle diejenigen Maßnahmen getroffen werden, durch die jeder Mensch mit Bezug auf die Menschenrechte jedem anderen gleich ist. Zu den Menschenrechten gehört auch das Arbeitsrecht. Dafür kann jeder mündig gewordene Mensch eintreten. Jeder Mensch, der mündig geworden ist, kann teilnehmen - entweder direkt auf dem Wege eines Referendums zum Beispiel oder indirekt durch Wahl beziehungsweise durch eine Volksvertretung - an der Festsetzung derjenigen Rechte, die unter gleichen Menschen zu herrschen haben. Daher herrscht auf dem Rechts- oder Staats- oder politischen Boden nicht der Vertrag, sondern das Gesetz. Gesetze werden in der Zukunft zum Beispiel auch die Arbeitsverhältnisse regeln. So werden durch Gesetze festgelegt sein Zeit, Maß und Art der Arbeit, während das, was darin innerhalb der gesetzlich festgelegten Arbeitszeit zu leisten ist, durch Verträge innerhalb des Wirtschaftskörpers geregelt wird.

Von ganz anderer Art ist wiederum das Geistesleben. Das Geistesleben beruht darauf, daß in ihm die Menschheit ihre Fähigkeiten entwickeln kann für das Staats- und Wirtschaftsleben. Das ist aber nur möglich, wenn man im Geistesleben die Grundlage dafür schafft, daß man die sich entwickelnden menschlichen Fähigkeiten, die ja dem Menschen nicht mit der Geburt einfach gegeben sind, sondern erst entfaltet werden müssen, sachgemäß zur Entwicklung, zur Entfaltung bringt. Es würde ein großer Irrtum sein, wenn man glaubt, daß die geistigen und auch die physischen Fähigkeiten - letztere sind ja im Grunde genommen gleichwertig den geistigen - auf dieselbe Weise erkannt und gepflegt werden könnten wie die staatlichen und wirtschaftlichen Dinge. Das, was sich zum Beispiel auf Erziehung und Unterricht bezieht, das kann weder beruhen auf Verträgen noch auf Gesetzen oder Verordnungen, sondern es muß beruhen auf Ratschlägen, die gegeben werden zur Entwicklung der Fähigkeiten.

Ja, diese drei Lebensgebiete, das Geistesleben, das Rechtsleben und das Wirtschaftsleben sind doch sehr verschieden, so daß ihre Vermischung nicht nur eine völlige Unmöglichkeit ist, sondern für die menschliche Entwicklung ein großes Unheil bedeutet. Unsere gegenwärtige Verwirrung, die sozialen Übelstände sind eben durch diese Vermischung entstanden.