Phasen der demokratischen Erziehung des Kindes

Quelle: GA 330, S. 273-284, 2. Ausgabe 1983, 18.06.1919, Stuttgart

Zwei Dinge, die da aus der neueren Menschheitsentwickelung heraufleuchten, werden sachgemäß beobachtet werden müssen, wenn man überhaupt darauf kommen will, was sich gegenwärtig zu verwirklichen strebt Aus dem Verschiedensten, was da oder dort in verständiger oder mißverständlicher Weise auftaucht, klingen immer doch zwei Forderungen der Gegenwart heraus, zwei Forderungen, die allerdings oftmals eben mißverständlich ausgesprochen werden, denen man aber in ihrer wahren Gestalt auf den Grund kommen muß, wenn man dem gewachsen sein will, was in unserer, die Menschheit so schwer prüfenden Gegenwart nach Wirklichkeit drängt. Diese zwei Devisen der neuesten Zeit sind erstens Demokratie und zweitens Sozialismus. Diejenigen, welche den Ruf nach einer Neugestaltung heute mehr erheben aus allgemein menschlichen Empfindungen heraus, sie kleiden diesen ihren Ruf in das Wort Demokratie, die, welche mehr aus dem wirklichen Leben und seinen Nöten heraus denken und empfinden, kleiden wiederum den Ruf nach einer Neugestaltung in das Wort Sozialismus.

Eines ist dabei in einer ganz merkwürdigen Art in der neueren Zeit vollständig wie aus dem Heroldsruf des öffentlichen Lebens herausgeworfen. Eine Partei hat die beiden Impulse der neueren Zeit, Demokratie und Sozialismus, zusammengezogen in ihrem Namen «Sozialdemokratie», und sie hat schon in ihrem Namen dasjenige ausgelassen, wovon ich heute beweisen möchte, daß es vor allen Dingen einem wirklichen, ernstgemeinten und praktischen Neuaufbau unserer Verhältnisse zugrunde liegen muß.

Unberücksichtigt geblieben ist nämlich bei diesen beiden Rufen das eigentliche Geistesleben, das Geistesleben im umfassendsten Sinne, in jenem Sinne, in dem es nicht nur sich erstreckt über das, was man an höheren Begriffen und Vorstellungen über allerlei wissenschaftliche und Weltanschauungsfragen, über allerlei Künstlerisches und Religiöses aufnimmt, sondern in dem Sinne, wie es sich auch erstreckt über die Erkenntnisse und Einsichten sowohl in bezug auf das Staatsleben wie in bezug auf das Wirtschaftsleben, wie es sich erstreckt nicht nur über die theoretischen, sondern auch über die praktischen Menschheitskräfte.

Man kann sagen, die neuere Menschheit hat sich in den letzten Jahrhunderten so entwickelt, daß sie mit Bezug auf das öffentliche Leben ein starkes Vertrauen hatte zu Einrichtungen, die sie immer demokratischer und demokratischer gestalten wollte. Und in diese Bestrebungen haben sich dann aus dem Erleben der modernen Wirtschaftsverhältnisse diejenigen Forderungen hineingestellt, die nach einer sozialen Gestaltung dieses Wirtschaftslebens gehen. Daher kann man heute das Gefühl haben, wenn auch die verwirrenden und chaotischen Verhältnisse der Gegenwart manches, was in den Untergründen strebt, zudecken, so ist doch das Bestreben vorhanden nach einer im demokratischen Sinne gehaltenen Sozialisierung der menschlichen Einrichtungen, nach einer sozial gestalteten demokratischen Einrichtung unseres öffentlichen Lebens. Aber merkwürdig, was verloren gegangen ist, das ist das Vertrauen zu den Kräften des menschlichen Geisteslebens. Man glaubt, daß Demokratie helfen kann, man glaubt weiter, daß Sozialismus helfen kann, aber man glaubt nicht, daß im Geistesleben selber Kräfte liegen, die vielleicht gerade, wenn sie in der rechten Weise erfaßt würden, das aus dem Menschenwesen entbinden könnten, was zum Heile der Gegenwart und der nächsten Zukunft in diesem Menschenwesen entbunden werden muß.

Sieht man sich in der heutigen Zeit, wo so viele zum Sozialismus drängen, ein wenig um, so macht man eine merkwürdige Entdeckung. Man möchte fast sagen, der Ruf nach Sozialisierung wurde und wird in dem Maße stärker und kräftiger, je antisozialer die menschlichen Triebe sind, je antisozialer das menschliche Seelenleben wird. Und man möchte sogar so sagen: Der Mensch vernimmt aus seinem antisozialen Seelenleben heraus, wie wenig er in der Lage war, die äußeren Einrichtungen im sozialen Sinne zu gestalten, und weil er im Innern so antisozial ist, so ruft er nach einer sozialen Gestaltung der äußeren Verhältnisse. Allein, wer die Menschennatur kennt, der weiß, daß ohne eine gewisse Umgestaltung des menschlichen Innern die soziale Gestaltung der äußeren Einrichtungen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Der große Irrtum, von dem die Menschheit in ihren führenden Geistern schon lange ausgegangen ist, das ist - ich habe das auch schon vorgestern berührt -, daß der Mensch von Natur aus irgendwelche Eigenschaften fertig hat, mit denen man in der menschlichen Gesellschaft unmittelbar rechnen kann. Zwar glaubt man immer an das Gegenteil, aber das, was ich eben gesagt habe, ergibt doch die Erfahrung des Menschenlebens selbst.

Das, worauf ich im Beginne der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in meinem Buche «Die Philosophie der Freiheit» aufmerksam zu machen versuchte, war, daß der Mensch zu seinem Volldasein nur kommen kann, wenn er dieses Volldasein wirklich in seinem Werden zwischen Geburt und Tod entwickelt, wenn er namentlich dasjenige, was eine Seele doch haben muß, wenn sie ein menschenwürdiges Dasein anstrebt -, wenn er das Bewußtsein seiner freien Menschennatur durch die Entwickelung der in seinem Innern angelegten Kräfte erst entbindet. Frei kann man nur werden und frei können die Menschen nur werden, wenn sie zur Freiheit erzogen werden oder sich selbst erziehen. Wer dies durchschaut, der wird das, was heute als Ruf nach Sozialismus auftritt, doch in einer tieferen Weise anschauen, als das gewöhnlich geschieht. Er wird fragen, ist es nicht vielleicht so, daß wir uns als Mensch zu Menschen nicht sozial und demokratisch hinfinden, weil unser Erziehungsleben dasjenige in uns, was für Demokratie und Sozialismus veranlagt ist, nicht in der richtigen Weise heranentwickelt? Man braucht ganz bestimmte innere Antriebe der Menschennatur, wenn man sich in eine demokratische Gemeinschaft hineinstellen soll, oder wenn man eine soziale Wirtschaftsgemeinschaft begründen will. Und man könnte fast sagen, wenn man damit nicht durch eine allerdings richtige Wahrheit zu viele Menschen der Gegenwart schockieren würde: So wie der Mensch geboren wird - die Entwickelung des Kindes zeigt es deutlich -, so hat er zunächst nicht die Triebe nach Demokratie und auch nicht die nach Sozialismus, die müssen erst in seine Seele hineingesenkt werden. Sie liegen veranlagt darin, aber sie kommen nicht von selbst heraus. Und ehe nicht unser Erziehungssystem auf eine gründliche und eine wirklichkeitsgemäße Erkenntnis der Menschennatur gestellt wird, eher erleben wir es nicht, daß der Mensch in eine soziale oder demokratische Gemeinschaft selber mit demokratischer und sozialer Gesinnung sich hineinstellen kann. Er wird, wenn er sich auch dessen nicht bewußt ist, aus unterbewußten Triebkräften heraus stets Demokratie und Sozialismus zu sprengen versuchen. Und werden nicht Ansätze gemacht zur Erziehung in demokratischem Sinne wie auch in sozialem Sinne, dann leben die Menschen des weiteren wiederum so zusammen, daß aus dem Demokratischen irgendeine Tyrannis, aus dem Sozialen irgend etwas Antisoziales wird, wie ja ganz gewiß aus dem Sozialen, das man im europäischen Osten anstrebt, das Antisozialste in verhältnismäßig kurzer Zeit werden mußte und eben jetzt schon da ist! Dadurch wird der Blick desjenigen, der es heute mit der Menschheitsentwickelung ehrlich meint, vor allen Dingen auf das Geistesleben, auf die Erziehung gelenkt. Und die Notwendigkeit stellt sich heraus, auf eine wirkliche sachgemäße Menschenerkenntnis vor allen Dingen das Geistesleben und seinen wichtigsten Bestandteil, die Erziehung und den Unterricht, zu stellen. Man beachtet das hier in Betracht Kommende manchmal zwar instinktiv, aber dieses instinktive Beachten genügt nicht, man muß das, was zugrunde liegt, mit einer gründlichen pädagogischen Einsicht durchsetzen. Man beachtet viel zu wenig, daß der heranwachsende Mensch in drei aufeinanderfolgenden Lebensepochen drei ganz verschiedene Entwickelungszustände zeigt. Die erste Lebensepoche ist diejenige, die mit dem Zahnwechsel abschließt, gegen das siebente Lebensjahr. Die zweite ist die, welche sich erstreckt vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, und die dritte ist jene, die dann von der Geschlechtsreife sich erstreckt bis zum Ende des zweiten menschlichen Lebensjahrzehntes. Daß diese drei Lebensepochen des Menschen ganz wesenhaft voneinander verschieden sind, daß Erziehung und Unterricht auf diese Verschiedenheit gebaut sein müssen, das ist etwas, was der Menschheit so einleuchten muß wie die Naturgesetze, wenn in der Menschheit dasjenige an sozialen und demokratischen Trieben aufleuchten soll, was zu einer Neubildung der menschlichen Entwickelungsverhältnisse notwendig ist. Wer die Fähigkeit hat, innerlich das Kind in jener wichtigen Lebensepoche, in der das Leben von der Geburt bis zum Zahnwechsel abläuft, zu beobachten, der weiß, daß alle Tätigkeit, alle irgendwie gerichtete Handlungsweise des Kindes in dieser ganz unbewußten, instinktiven Kinderzeit beherrscht ist von dem Prinzip der Nachahmung. Das Kind hat in dieser Zeit durchaus das Bestreben zu sprechen, Gesichter zu machen, die Hände zu bewegen, so zu tun, wie seine Umgebung tut, spricht, Gesichter macht, die Hände bewegt. In diesem nachahmenden Bestreben des Kindes, dem man durch eine wirklich praktische Erziehung entgegenkommen muß, liegt etwas für das menschliche Leben höchst Bedeutungsvolles. Es liegt darin, daß die menschliche Natur das, was sie im späteren Leben bewußt niemals vollbringen kann, unbewußt, instinktiv versucht: sich zusammenzufinden als Einzelmensch mit anderen Menschen. Im nachahmenden Tun und Bestreben soll sich ausgestalten ein Hineinfinden in die menschliche Sozietät, soll sich ausgestalten ein wirklich menschliches, durch Bande von Mensch zu Mensch gehendes Zusammenleben der Menschen.

Nehmen wir an, die Menschheit könnte sich in der Gegenwart entschließen, in radikaler Weise hinzuschauen auf dieses Prinzip der Nachahmung in den ersten Kinderjahren. Dann würde, wenn darauf Sorgfalt gelegt würde, für das spätere Leben etwas entwickelt werden, was nur bewußt, verständig entwickelt werden kann, wenn im unbewußten Kindesalter die Nachahmung richtig waltet. Diese Nachahmung sieht man nicht immer in der richtigen Form. Da kommen Eltern zu einem und sagen: Mein Kind, oh, ich habe große Sorge, mein Kind hat einen Diebstahl begangen, es hat Geld aus der Schublade herausgenommen! Man fragt nach: Wie alt ist das Kind? - Fünf Jahre. - Man muß dann sagen: Wenn sonst alle Erziehungsverhältnisse in Ordnung sind, so braucht man sich aus dieser Sache keine besondere Sorge zu machen, denn das Kind ist ein Nachahmer, es tut das, was in seiner Umgebung getan wird. Es hat gesehen, wie jeden Tag die Mutter soundso oft Geld aus der Schublade nimmt, und es macht dies nach. In diesem kindlichen Alter haben Worte, welche Sittengebote ausdrücken, noch keinen Einfluß auf die kindliche Entwickelung, sondern allein das, was man selbst in der Umgebung des Kindes macht.

Beachten wir dies, dann legen wir bei einer entsprechend eingerichteten Erziehung den Grund dazu, daß, wenn der Mensch in der richtigen Weise mit Hinorientierung auf die naturgemäße Nachahmungssucht erzogen worden ist, daß ihm dann im bewußten Lebensalter das aufblüht, was man nennen kann die richtige Achtung, die richtige Einschätzung des anderen Menschen, das Bestreben, den anderen Menschen so zu achten, wie er geachtet zu werden verdient, einfach deshalb, weil er Menschenantlitz trägt. Und dies ist die erste Bedingung für die richtige Ausgestaltung einer Demokratie! Demokratien können auf dem Rechtsboden nur dadurch in der richtigen Weise entstehen, daß die Menschen in den demokratischen Parlamenten in Gesetze dasjenige formen, was als Verhältnis von Mensch zu Mensch als gleichen lebt. Das wird geschehen, wenn diese Menschen in sich solche Lebensantriebe haben, die nach der Menschenachtung hingehen und die ihnen nur werden können, wenn sie in der Kindheit in der richtigen Weise gemäß dem Prinzip der Nachahmung erzogen worden sind.

[...] Die praktische Erfahrung, die ja auf die menschlichen Bedürfnisse muß eingehen können, sie kann sich nur entwickeln, wenn die Menschen in ihrer Kindheit gemäß dem Prinzip der Nachahmung erzogen worden sind, wenn sie gelernt haben, unbewußt, sich den Menschen anzupassen. Wenn sie für das öffentliche Rechtsleben des Staates die Achtung des Menschenlebens entwickelt haben, dann können sie auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens Verständnis entwickeln für die menschlichen Bedürfnisse.

Die zweite Lebensepoche des heranwachsenden Menschen geht vom Zahnwechsel, der einen viel größeren Eingriff in den Gesamtorganismus bedeutet als die heutige Anthropologie und Physiologie noch ahnen, weil sie von Äußerlichkeiten ausgehen, bis zur Geschlechtsreife. Das ist das Lebensalter, in welchem die menschliche Natur zu jenem Vertrauen neigt, vom heranwachsenden Menschen zu dem erwachsenen Menschen, das sich ausspricht in dem Autoritätsgefühl. Heute, wo man im Grunde genommen in abstrakter Art das, was für ein Lebensgebiet gilt, auch auf andere Lebensgebiete ausdehnen will, heute möchte man schon auch für dieses Kindesalter nicht gerne von der Notwendigkeit der Autorität sprechen. Aber würde man in diesem Lebensalter bei der Erziehung außer acht lassen die Hinordnung dieser Erziehung auf ein gesundes Autoritätsgefühl, in dem sich unbewußt innere Seelentriebe entwickeln, die für später notwendig sind, dann würde anderes im bewußten und verständigen Leben nicht herauskommen können, was einzig und allein den Menschen zum sozialen Wesen wie auch zum demokratischen Wesen machen kann. Der Mensch richtet sich gewissermaßen nach den anderen Menschen in den ersten Lebensjahren durch Nachahmung. Im zweiten Lebensalter, vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, will er sich mehr noch an das Innerliche des anderen Menschen anpassen. Da will er lernen, den anderen Menschen zu verstehen, will lernen, an das zu glauben, was der andere ihm überliefert. Da will er in sich selbst erleben, als sein Erlebnis dasjenige, was der andere ihm als Erlebnis ausdrückt, da will er hinschauen zu einem Menschen, der das schon kann, was in ihm nach Dasein strebt. Da will der eine Mensch sich mit dem anderen Menschen sozial instinktiv zusammenpassen. Ist dann der Mensch erwachsen, tritt bei ihm das vollständige Bewußtsein ein, dann wird wiederum die Blüte desjenigen erstehen, was auf Autorität hin im Kindesalter erlebt worden ist.

So kann man nicht in der richtigen sozialen Weise in die Menschengemeinschaft der Demokratie sich hineinleben, wenn man nicht erst jene Anpassung an das menschliche Innere gefunden hat, die sich in dem kindlichen Autoritätsgefühl auslebt. Niemand wird heute auf dem Boden der Rechtsdemokratie in richtiger Weise zu stehen fähig, der nicht zwischen seinem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife gelernt hat, zu dem anderen Menschen, der ihm voraus ist, hinaufzuschauen Denn nur dann, wenn er das gelernt hat, wird ihm das wahre, gesunde Gefühl erwachsen: Wir sind alle als Menschen einander gleich, wir müssen als Menschen so miteinander leben, daß die Gleichheit unter den Menschen rechtlich eine Wirklichkeit werde. Niemals wird letzten Endes in einem Rechts-, in einem Staatsparlament auf dem Boden der Demokratie etwas von Gesetzen zustandekommen, die im wirklichen Sinne demokratisch sind, das heißt dasjenige festsetzen, was alle Menschen zu gleichen macht, wenn jene Menschen, die solche Gesetze machen, nicht aus ihrem Innern das heraufkraftend haben, was in der Seele geworden ist, wenn sie das in der Jugend so wohltätige Gefühl des Hinaufschauens zu einem anderen Menschen als seiner Autorität gehabt hat. Man wird niemals lernen, den andern Menschen im späteren verständigen, bewußten Leben als einen wirklich gleichen anzuerkennen, wenn man nicht den Menschenwert zuerst erfühlt hat in diesem Hinaufschauen zu dem andern Menschen. Daß Gleichheit herrsche, daß Demokratie möglich werde, das hängt davon ab, daß wir die Menschennatur nach ihrer inneren Wesenheit erziehen lernen. Denn nur aus dem Autoritätsgefühl des Kindes, das sich während der Schulzeit in verschiedensten Formen auslebt, kann das rechte Rechtsgefühl von Menschengleichheit im späteren Leben erblühen.

Wenn im Wirtschaftsleben, auf dem Boden des Wirtschaftsleben wirklich, was ja auch der Aufruf nach Sozialisierung andeutete, an die Stelle jener Güterausteilung, die ganz beherrscht wird in der Gegenwart vom Kapitalgewinn und Lohngewinn, wenn an diese Stelle jene Güterverteilung treten soll, die vernünftig, meinetwillen von einem «Rätesystem», geleitet wird, dann muß die Kraft, welche diese gerechte Güterverteilung bewirkt, erblühen - wie das Gefühl der Gleichheit in der Demokratie - aus jenem Hingezogensein zwischen Mensch und Mensch, das in der Kindheit nur aus dem Autoritätsgefühl erwachsen kann.

[...] Nimmermehr darf für die Zukunft das vergessen werden, was die menschlichseelische Grundlage für alles demokratische und alles soziale Leben sein muß

Das dritte Lebensalter, in welchem die meisten unserer jungen Menschen schon Vollmenschen zu sein glauben - sie schreiben ja in diesem Lebensalter sogar schon Feuilletons -, das ist das von der Geschlechtsreife bis ungefähr zum Ende des zweiten Lebensjahrzehntes, bis in die Zwanzigerjahre hineingehende. Da wird nicht nur die geschlechtliche Liebe geboren, da wird auch das, was früher als Autoritätsgefühl da war, umgewandelt in das, was nun wirklich sich betätigende, sich erfühlende allgemeine Menschenliebe ist. Da senkt sich durch Umwandlung aus Nachahmungsanpassung und Autoritätsanpassung in die menschliche Seele dasjenige, was uns eigentlich wirklich soziale Triebe gibt, was uns fähig macht, uns als Mensch neben den Menschen brüderlich liebevoll hinzustellen. Das geschlechtliche Liebesverhältnis ist nur ein Spezialfall desjenigen, was in diesem Lebensalter als allgemeine Menschenliebe auftritt. Allen Menschen, gleichgültig, ob sie Handarbeiter oder ob sie Geistesarbeiter sind, muß auch durch dieses Lebensalter hindurch neben der Ausbildung für den praktischen Lebensberuf die Möglichkeit gegeben sein, solche Vorstellungen, solche Begriffe über Welt und Leben, mit anderen Worten, eine solche Weltanschauung aufzunehmen, solche Erkenntnisse über Natur- und Geistesleben aufzunehmen, damit Verständnis eintritt für alles, was lebt, vor allen Dingen Liebe, Brüderlichkeit zu anderen Menschen. Daß wir es heute noch immer nicht dahin gebracht haben, dem Lehrling, der einem praktischen Leben zueilen soll, auch die Gelegenheit zu geben, eine allgemeine Weltanschauungsbildung zu erhalten, die ihn nicht in einer Klasse abschließt gegenüber den bevorzugten Klassen, sondern die ihn als Mensch gegenüber den Menschen gleichstellt, das ist das, was in unserer Zeit noch die antisozialen Triebe erzeugt.

Und das, was in dieser Zeit bei einem richtigen Heranerziehen und Heranschulen der allgemeinen Menschenliebe und Brüderlichkeit für den Boden des Rechtes, für den Boden der Demokratie erblüht, das ist das, was man nun die wirkliche, tätige Hingabe an Menschenwohl und Menschensein nennen kann. Denn die Demokratie wird sich auch nur dadurch entwickeln können, daß sie neben dem Gefühl für die Gleichheit aller Menschen auch das entwickelt, was man folgendermaßen charakterisieren kann.

[...] Das wird eine wichtige Einrichtung im Wirtschaftsleben der Zukunft sein, daß an die Menschen, an ihre Einsicht und an ihr Verständnis wird so herangetreten werden können, daß man sie durch ihre eigenen inneren Impulse, die man erwecken kann, von dem bloß auf Erwerb gestellten Produzieren weglenkt und auf ein solches Produzieren hinlenkt, welches dem notwendigen Konsum, dem notwendigen Bedürfnis der Allgemeinheit dient. Das aber, was dazu notwendig ist, um in richtiger Weise hier zu raten, um die Menschen so in vernünftiger Weise in das Wirtschaftsleben hineinzustellen, daß die gegenseitigen Preisverhältnisse dadurch zustande kommen, daß kein Überschuß der Arbeit auf der einen Seite und keine Unterarbeit auf der andern Seite möglich ist, was dazu notwendig ist, das kann bei denjenigen, die im Wirtschaftsleben raten sollen, nur dadurch aufsprießen, daß die Menschen in ihrer Jugend herangezogen haben das Gefühl für menschliche Brüderlichkeit, für Menschenliebe. Denn man wird, wenn nicht auf äußere Einrichtungen, die nutzlos sein würden, sondern auf die innere Menschengemeinschaft hin der Neubau unserer menschlichen Entwickelung gegründet werden soll, und wenn man sich fügen soll diesen Neueinrichtungen, dann wird man in Zukunft aus denjenigen, die einem raten, raten aus demokratischer Menschenfreundlichkeit heraus, das herausfühlen müssen: Da ist Brüderlichkeit! Da wird das Leben so eingerichtet, daß nicht der einzelne nur kapitalmäßig oder lohnmäßig verdient, sondern daß die Menschen arbeiten, damit jeder die für sein Leben und seine Arbeit angemessene Bedürfnisbefriedigung erhalten kann.

Das zeigt, wie das, was im Grunde genommen, ich möchte sagen, «zwischendurchgefallen» ist, indem man die Rufe nach Demokratie und Sozialismus erhoben hat, wie das Geistesleben gerade in besonderem Maße in Angriff genommen werden muß. Nur dadurch, daß das jugendliche Gemüt durch Nachahmung, Autorität und Liebe hindurchgeht, wird der Mensch ein Vollmensch, so daß das, was in seiner Seele sitzt, sich demokratisch und sozial in der menschlichen Gemeinschaft ausleben kann. Dadurch aber allein gelangen die Menschen zu dem, was ich vorgestern genannt habe die wahre Menschenfreiheit, die heranerzogen wird durch den Durchgang durch Nachahmung, Autoritätsgefühl und Liebe. Deshalb kann man nicht sagen, man fordert einfach Freiheit, sondern man muß sich gestehen: Es muß unser Erziehungswesen durchdrungen werden von denjenigen Kräften, die den Menschen als freien Menschen in die Demokratie und in das soziale Wirtschaftsleben hineinstellen.

[...] Statt daß wir uns immer mehr instand gesetzt hätten - das soll keine geschichtliche Kritik, sondern nur ein Aufweisen von Tatsachen sein -, uns für die Demokratie das zu erwerben, was allein zu demokratischen Gesetzen führen kann, Menschenachtung, Menschenglaube an die Menschen als gleiche und Menschenhingabe -, statt dessen haben wir Gesetzesgehorsam entwickelt und das Streben, uns für irgendwelche Staatsstellung geeignet zu machen. Wichtiger in dem Zeitalter, in dem sich die allgemeine Menschenliebe entwickeln sollte, von der Geschlechtsreife bis in die Zwanzigerjahre hinein, wichtiger als diese Entwickelung eines Seelenfonds, der da ganz in der Atmosphäre der allgemeinen Menschenliebe lebt, ist das geworden, was man das Berechtigungswesen nennen kann. Statt den Menschen zum Vollmenschen zu machen, soll er irgendein Beamter werden in irgendeinem Staate, soll er derjenige werden, der kapitalistisch oder lohnmäßig in entsprechender Weise, wie in einer reinen Erwerbsgenossenschaft sich fortbringen kann. Gesetzesgehorsam und äußerliche Einordnung - das ist dem Menschen dadurch geworden, daß das Geistesleben aufgesogen worden ist vom Staate, daß der Staat der treibende Motor des Geisteslebens geworden ist.