Strafrecht fragt nach Freiheit statt nach Möglichkeit der Freiheit

Quelle: GA 330, S. 262-264, 2. Ausgabe 1983, 16.06.1919, Stuttgart

Die Menschen fragen so leicht und haben seit Jahrhunderten immer wieder gefragt, und die Philosophen haben darüber spekuliert und unzählige Meinungen sind aufgestellt worden darüber: Ist der Mensch frei seinem Willen nach, oder ist er nicht frei? Ist er ein bloßes Naturwesen, das nur aus den mechanischen Antrieben seines Inneren heraus handeln kann? Die Frage wurde immer falsch angepackt, weil immer mehr und mehr im Okzident das Gefühl für die eigentliche Wirklichkeit des Geisteslebens schwand. Für den Orient hat die Frage nach Freiheit oder Unfreiheit fast gar keine Bedeutung, sie spielt gar keine Rolle dort. Im Abendlande wurde sie zur Grundfrage des Weltanschauungs- und schließlich sogar des politischen Lebens, ja des Strafrechts und so weiter. Und man kam auf eines nicht - Sie können dasjenige, was zu diesem Gedankengang, was zu dieser Erkenntnis im einzelnen führt, in meinem Buche « Die Philosophie der Freiheit » umfassend nachlesen -, man kam auf das eine nicht, daß die Frage: Ist der Mensch frei oder ist er nicht frei? eigentlich gar keinen Sinn hat, daß sie anders gestellt werden muß, daß sie so gestellt werden muß: Ist der Mensch von seiner Geburt an durch eine seinem Wesen angemessene Erziehung erziehungsgemäß und schulgemäß so zu entwickeln, daß in seinem Innern, trotz äußerlicher Rechts- und Wirtschaftseinrichtungen etwas als Erlebnis aufsteigen kann, das ihn zum freien Wesen macht? Ja, das ihn nicht nur innerlich zum freien Wesen macht, sondern das in ihm die Kraft der Freiheit zu einer solchen Stärke ausgestaltet, daß er dann auch das äußere Rechts- und das äußere Wirtschaftsleben in seinem Sinne einrichten kann? Das entstand ja als Grundantrieb in der modernen sich entwickelnden Menschheit, auf der einen Seite der demokratische Trieb nach gleichem Recht für alle, auf der andern Seite der soziale Trieb: Ich helfe dir, wie du mir helfen sollst. Man fühlte aber: Solch eine soziale Ordnung mit « gleiches Recht für alle » und mit « hilf mir, wie ich dir helfen will und muß », solch eine soziale Ordnung läßt sich nur einrichten von Menschen, die als freie Menschen, als freie Geistesmenschen eine wahre Beziehung zur ganzen Wirklichkeit entwickeln.

Verständnis muß man erst dafür haben, daß der Mensch weder zur Freiheit noch zur Unfreiheit geboren ist, daß er aber erzogen und entwickelt werden kann zur Freiheit, zum Verständnis der Freiheit, zu dem Erleben der Freiheit, wenn man dasjenige Geistesleben an ihn heranbringt, das ihn durchdringt mit Kräften, die ihn erst freimachen in seiner Entwickelung als Mensch; daß man sich hinaufentwickeln kann bis zu dem Punkte, wo unsere Gedanken nicht mehr die abstrakten, unwirklichen, ideologischen sind, sondern diejenigen Gedanken, die vom Willen ergriffen werden. Das versuchte ich, in meiner « Philosophie der Freiheit » vor die Welt als eine Erkenntnis hinzustellen: Die Ehe des Willens mit den innerlich frei gewordenen Gedanken. Und aus dieser Ehe des Willens mit den innerlich frei gewordenen Gedanken ist zu erhoffen, daß der Mensch hervorgeht, der auch die Fähigkeiten entwickelt, im Zusammenleben mit den andern, das heißt in sozialer Gemeinschaft, ein jeder für sich und ein jeder sozial mit jedem andern, solche Rechts- und solche wirtschaftlichen Ordnungen hervorzubringen, die man hinnimmt in ihrer Notwendigkeit, wie man die Notwendigkeit hinnimmt, daß man den physischen Leib an sich tragen muß, seinen Gesetzen gehorchen muß und nicht frei ist, sich einmal die rechte Hand nach links und umgekehrt wachsen zu lassen, oder den Kopf in die Mitte der Brust. Gegen das, was von Natur aus schon vernünftig ist, kämpfen wir nicht aus der Freiheit an. Gegen dasjenige, was an den menschlichen Rechts- und Wirtschaftseinrichtungen widermenschlich und widernatürlich ist, kämpfen wir mit unserer Freiheit an, wenn wir zu entsprechendem Bewußtsein gekommen sind, weil wir wissen, es ist anders zu machen.