Haltung der Dreigliederer zu den Parteien

Quelle: GA 331, S. 135-138, 1. Ausgabe 1989, 14.06.1919, Stuttgart

Vorsitzender Herr Lohrmann: Ich eröffne die heutige Versammlung. Sie ist leider sehr schlecht besucht, was wohl sehr stark darauf zurückzuführen ist, daß die Parteien dazu übergehen, unsere Sache zu bekämpfen. Es beruht das auf einem Irrtum. Ich habe mich auch mit verschiedenen Parteileuten auseinandergesetzt. Sie sehen in der Sache der Dreigliederung eine Zersplitterung der Arbeiterschaft, des Proletariats, in dem Kampfe, der zur Befreiung des Proletariats führen wird. Aus diesem Grunde bekämpft die Partei die Dreigliederung des sozialen Organismus. Wir können uns ja heute noch darüber aussprechen, welche Stellung wir fernerhin einnehmen müssen speziell den Parteien gegenüber. Ich glaube, daß nachher in der Diskussion die Sache zur Sprache kommen kann.

Einleitende Worte von Rudolf Steiner: «Meine werten Anwesenden! Ich will in der Einleitung recht kurz sein, weil ich glaube, daß die Hauptsache dann in Rede und Gegenrede behandelt werden sollte. Eben hat Sie der Herr Vorsitzende darauf aufmerksam gemacht, daß sich gegen das, was hier von seiten des «Bundes für Dreigliederung» gewollt wird, eine heftige Gegenströmung in Szene setzt. Und Sie haben ja auch gehört, aus welchen Gründen diese Gegenströmung sich geltend macht. Ich möchte vielleicht sogar sagen, daß man die Sache noch ganz anders ausdrücken könnte, also das, was über die Gründe, aus denen heraus sich diese Gegenströmung geltend macht, gesagt wird. Wenn sich diese Gegenströmung wirklich auf die Vermutung stützen würde, daß in das Parteiwesen ein Keil hineingetrieben werden könnte, so würde sie ja von durchaus falschen Voraussetzungen ausgehen. Ich kann nicht einsehen, wie man die Behauptung aufrechterhalten will, daß von unserer Seite irgendwie die Absicht vorliegen sollte, in das Parteiwesen einen Keil hineinzutreiben. Denn sehen Sie, die Sache liegt doch so: Die Parteien haben ihr Programm, und sie haben auch die Absicht, in der nächsten Zeit dieses oder jenes zu tun. Sie werden ja gar nicht daran gehindert, dieses oder jenes zu tun! Es handelt sich ja nur darum, daß den Angehörigen irgendeiner Partei - sie können ja in ihrem Parteizusammenhang bleiben und das mitmachen, was der Parteizusammenhang von ihnen fordert - die Möglichkeit geboten wird, etwas Positives, was zur Tat werden kann, aufzunehmen. Daß damit die Absicht verbunden sei, daß die Persönlichkeiten des «Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus» selber die Plätze einnehmen wollten, welche von den Parteimitgliedern eingenommen sein wollen, davon kann ja nicht im geringsten die Rede sein.

Sehen Sie, die Sache ist ja so gekommen, daß man gesehen hat: Mit dem Parteiprogramm ist gegenwärtig gerade mit Bezug auf die allerwichtigste Frage, die Frage der Sozialisierung, nichts zu erreichen. Sie haben erlebt die sogenannte Revolution vom 9. November. Sie haben erlebt, daß da die Parteimänner an die Spitze der Regierung getreten sind. Sie haben aber auch erlebt, daß diese Parteimänner nichts anzufangen wußten mit dem, was ihnen nun wirklich so vorlag, daß sie bis zu einem hohen Grade darüber die Macht hatten. Sie könnten eine große Enttäuschung erleben, ja, ich möchte sagen, ich habe die Überzeugung, daß Sie sie wirklich erleben, wenn Sie gar nicht auf so etwas wie die Bestrebung für den dreigliedrigen sozialen Organismus eingehen würden. Sie könnten die Enttäuschung erleben, daß bei der zweiten Umwälzung andere Parteimänner an die Spitze der Regierung kommen, die, gar nicht aus irgendeinem bösen Willen heraus, sondern einfach, weil die Parteiprogramme machtlos sind, nach einiger Zeit nichts, was irgendwie etwas Positives ist, hervorbringen. Sie könnten erleben, daß eben wiederum eine Enttäuschung folgt. Sie vor diesen Enttäuschungen, diesen neuerlichen Enttäuschungen zu bewahren dadurch, daß man aufzeigt, was die gegenwärtige Zeit fordert und was in Wirklichkeit durchzuführen ist, das eben hat sich der «Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus» zur Aufgabe gemacht.

Parteien haben immer die Eigentümlichkeiten, daß sie nach und nach eigentlich abkommen von dem, was ursprünglich ihre Impulse waren. Parteien haben überhaupt ein merkwürdiges Schicksal. Da ich ja den Impuls zum dreigliedrigen sozialen Organismus nicht aus der Luft gegriffen habe, sondern ihn aufgrund eines wirklich intensiven Miterlebens der sozialen Bewegung über Jahrzehnte hin ergriffen habe, habe ich auch so manches erlebt. So habe ich zum Beispiel den Aufstieg der sogenannten liberalen Partei in Österreich erlebt. Diese Partei nannte sich liberal, stand aber auf dem Boden des Monarchismus, wie das selbstverständlich war in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Es war also eine liberale Partei. Aber wenn diese liberale Partei sich innerhalb des bestehenden österreichischen Staatswesens geltend machen wollte, da legte sich diese liberale Partei eine merkwürdige Bezeichnung zu: «Euer Majestät allergetreueste Opposition». Das war ein offizielles Beiwort für die Opposition im monarchischen österreichischen Staat.

Ich habe dieses Beispiel angeführt, um aufzuzeigen, daß den Parteien in bestimmten Situationen manchmal ihre eigentliche Stoßkraft genommen wird. Aber es gibt noch viel deutlicher sprechende Beispiele. So gibt es in Nordamerika ja zwei Hauptparteien, die demokratische und die republikanische. Diese zwei Parteien hatten vor längerer Zeit ihre Bezeichnung zurecht: Die einen nannten sich republikanisch, weil sie Republikaner waren, die anderen nannten sich demokratisch, weil sie Demokraten waren. Heute ist die Sache so, daß die republikanische Partei durchaus nicht mehr republikanisch ist und die demokratische Partei alles andere als demokratisch ist. Die beiden Parteien unterscheiden sich lediglich dadurch, daß sie von verschiedenen Konsortien aus verschiedenen Wahlfonds gespeist werden. Parteien entstehen, haben eine gewisse Lebenszeit, die verhältnismäßig kurz ist, dann sterben sie. Aber sie bleiben gewissermaßen, wenn sie schon Leichnam sind, noch lebendig als Leichnam; sie mögen nicht gerne sterben. Aber das schadet nichts. Wenn sie auch ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben, so sind sie doch noch Sammelbecken für die Menschen, und es ist trotzdem noch gut, wenn sie da sind, damit die Menschen eben nicht auseinanderlaufen. Deshalb hat man, wenn man nicht ein theoretisierender Politiker ist, wie es die Parteimänner ja oft sind, und wenn man nicht ein ideologischer oder utopistischer Politiker sein will, sondern wenn man sich auf praktischen Boden stellen will und sich bewußt ist, daß im politischen Leben nur etwas zu erreichen ist mit geschlossenen Menschengruppen, deshalb hat man gar kein Interesse daran, die Parteien zu zersplittern. Wir würden das Dümmste machen, was wir überhaupt machen könnten, wenn wir darauf aus wären, die Parteien zu zersplittern, oder etwa gar eine neue Partei begründen wollten. Wir könnten nichts Dümmeres machen. Also, darum kann es sich nun wirklich ganz und gar nicht handeln.