Wirtschaftsleben braucht Erfahrung und Kredit im umfassenden Sinne

Quelle: GA 337a, S. 074-075, 1. Ausgabe 1999, 30.05.1919, Stuttgart

Jeder muß teilnehmen können an dem demokratischen parlamentarischen Leben, der ein erwachsener, mündiger Mensch ist. Denn auf dem, was ein normaler, gesunder, erwachsener, mündiger Mensch ist, auf dem, was er wissen, was er denken, was er fühlen und was er wollen kann, auf dem kann alles dasjenige beruhen, was im Rechtsleben zum Austrag kommt. Aber in dieses Rechtsleben hat sich hineingemischt das Wirtschaftsleben, was also nicht bloß beruht auf den Empfindungen und Gedanken des erwachsenen, mündigen Menschen, sondern was beruht erstens auf wirtschaftlicher Erfahrung, die man sich nur im einzelnen konkreten Gebiete erwerben kann, zweitens auf den tatsächlichen Grundlagen, ich möchte sagen auf dem Kredit im umfassendsten Sinne - ich meine nicht Geldkredit, sondern Kredit im umfassendsten Sinne, der dadurch in einer Menschengruppe erzeugt wird, daß diese Menschengruppe in einem bestimmten Produktionszweige drinnensteht.

Weil sich da im Wirtschaftsleben alles entwickeln muß aus tatsächlicher Erfahrung und tatsächlicher Verwaltungsgrundlage des konkreten einzelnen Zweiges, kann dasjenige, was im Wirtschaftsleben an Organisation vorhanden ist, auch nur auf einer solchen Grundlage erwachsen, das heißt, es kann im Wirtschaftsleben nur eine sachgemäße Verwaltung aus der wirtschaftlichen Erfahrung und aus den wirtschaftlichen Tatsachen, Grundlagen heraus sich entwickeln. Da wird es keine parlamentarische Vertretung an der Spitze geben, sondern es wird eine Struktur geben von Assoziationen, Koalitionen, Genossenschaften aus den Berufsständen, aus der Zusammengliederung von Produktion und Konsumtion und so weiter, die sich organisieren, die sich verwalten können. Und diese Struktur wird auch zu einer gewissen Spitze treiben - ich möchte sagen zu einem Zentralrat treiben.