Natur und Geschichte machen fortwährend Sprünge

Quelle: GA 192, S. 101-102, 1. Ausgabe 1964, 11.05.1919, Stuttgart

Das, was hier als Anthroposophie getrieben wurde, ist etwas, was so umwandeln kann die natürliche Erkenntnis, auch die historische Erkenntnis, daß sie jedem verständlich werden kann. Denken Sie doch nur, wie verständlich sein kann für jeden dasjenige, was ich historisch immer entwickelt habe als einen großen Sprung in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Das wird, denke ich, jedem verständlich. Das ist aber die Grundlage, ohne die man überhaupt nicht verstehen kann die ganze soziale Bewegung der Gegenwart. Darum verstehen die Menschen diese ja nicht, weil sie nicht wissen, wie die Menschheit geworden ist seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Wenn man dann solche Dinge entwickelt, dann kommen die Menschen und erklären einem: Die Natur macht doch keine Sprünge; also, du hast unrecht, wenn du einen solchen Entwickelungssprung im fünfzehnten Jahrhundert annimmst. - Dieser blödsinnige Satz, « die Natur macht keine Sprünge », wird immer wiederum tradiert. Die Natur macht fortwährend Sprünge: den Sprung vom grünen Laubblatt zum anders geformten Kelchblatt, den Sprung vom Kelchblatt zum Blumenblatt. So ist auch die Entwickelung des Menschenlebens. Wer nicht nach der unsinnigen konventionellen Geschichtslüge Geschichte lehrt, sondern nach dem, was wirklich vorgegangen ist, der weiß, daß die ganze feinere Konstitution des Menschen in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts anders geworden ist, als sie vorher war. Und das, was sich heute vollzieht, ist die Auslebung desjenigen, was seit jener Zeit die Menschheit in ihrem Zentrum ergriffen hat. Will man verstehen, was heute soziale Bewegung ist, so muß man solche Gesetze erkennen in der geschichtlichen Entwickelung.