Philosophie der Freiheit statt Einheitsstaatsgötzen

Quelle: GA 330, S. 101-102, 2. Ausgabe 1983, 25.04.1919, Stuttgart

Und nun zum Schlusse möchte ich noch das sagen: Als die Morgenröte der neueren Zeit anging, da waren diejenigen Menschen, welche am meisten ein Herz hatten für den Fortschritt der zivilisierten Menschheit, durchdrungen von drei großen Idealen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese drei großen Ideale, es hat damit eine sonderbare Bewandtnis. Auf der einen Seite fühlt jeder gesunde und innerlich mutige Mensch: Das sind die drei großen Impulse, welche die neuere Menschheit nun endlich führen müssen. Aber ganz gescheite Leute haben im neunzehnten Jahrhundert immer wieder nachgewiesen, welcher Widerspruch doch eigentlich herrsche zwischen diesen drei Ideen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ja, es herrscht ein Widerspruch, sie haben recht. Darum sind sie aber doch die größten Ideale, trotzdem sie sich widersprechen. Sie sind eben aufgestellt in einer Zeit, in der der Blick der Menschheit noch wie hypnotisiert hingerichtet war auf den Einheitsstaat, der bis in unsere Zeit noch wie ein Götze verehrt worden ist. Insbesondere diejenigen, die den Staat zu ihrem Protektor und sich zu den Protektoren des Staates gemacht haben, die sogenannten Unternehmer, sie könnten zu dem Arbeitnehmer sprechen, wie Faust zu dem sechzehnjährigen Gretchen sprach von dem Gotte: Der Staat, mein lieber Arbeiter, er ist der Allumfasser, der Allerhalter, faßt und erhält er nicht dich, mich, sich selbst? - Und unterbewußt kann er denken: besonders aber mich! - Auf diesen Götzen Einheitsstaat wurde der Blick wie hypnotisiert gerichtet. Da, in diesem Einheitsstaate, da widersprechen sich allerdings diese drei großen Ideale. Diejenigen aber, die sich nicht haben hypnotisieren lassen von diesem Einheitsstaat auf dem Gebiete des Geisteslebens, die von der Freiheit dachten wie ich selbst in meinem Buche «Die Philosophie der Freiheit», das ich im Anfang der neunziger Jahre verfaßt habe, und das gerade jetzt in unserer Zeit der großen sozialen Fragen, des großen Umdenkens wieder erscheinen mußte, die wußten: Nur deshalb sah man Widersprüche zwischen den drei größten sozialen Idealen, weil man glaubte, sie im Einheitsstaat verwirklichen zu müssen.

Erkennt man in richtiger Weise, daß der gesunde soziale Organismus ein dreigegliederter sein muß, dann wird man sehen: Auf dem Gebiet des Geisteslebens muß herrschen die Freiheit, weil gepflegt werden müssen Fähigkeiten, Talent, Begabung des Menschen in freier Weise. Auf dem Gebiet des Staates muß herrschen absolute Gleichheit, demokratische Gleichheit, denn im Staate lebt dasjenige, worin alle Menschen einander gleich sind. Im Wirtschaftsleben, das abgesondert sein soll von dem Staats- und Geistesleben, aber dem geliefert werden soll vom Staatsleben und vom Geistesleben die Kraft, muß herrschen Brüderlichkeit, Brüderlichkeit in großem Stile. Sie wird sich ergeben aus Assoziationen, aus Genossenschaften, die aus den Berufsgenossenschaften und aus jenen Gemeinschaften hervorgehen werden, die gebildet sind aus gesunder Konsumtion, zusammen mit gesunder Produktion. Da wird herrschen können im dreigeteilten Organismus Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Und verwirklicht wird werden können durch die neuere Sozialisierung dasjenige, was gesund denkende und gesund fühlende Menschen seit langer Zeit ersehnen. Man wird nur den Mut haben müssen, manches alte Parteiprogramm wie eine Mumie zu betrachten gegenüber den neuen Tatsachen. Man wird den Mut haben müssen dazu, sich zu gestehen: Neue Gedanken für neue Tatsachen, für die neuen Entwickelungsphasen der Menschheit sind notwendig.