Freies Geistesleben statt Korporationen

Quelle: GA 330, S. 059-060, 2. Ausgabe 1983, 23.04.1919, Stuttgart

Sie können sagen, sehr verehrte Anwesende, warum schließen sich diejenigen, welche diesen Aufruf vertreten, nicht einer sozialistischen Partei an? Ich möchte mit einem sehr einfachen Hinweis antworten: Sicherer als solches Anschließen an irgendeine Partei, deren Programme ja alle umgestaltet werden müssen, darf Ihnen heute sein, daß derjenige, der diesen Aufruf zunächst verfaßt hat, jedenfalls einer bürgerlichen Partei und einer bürgerlichen Vereinigung niemals angehört hat, niemals angehören konnte. Dieser Aufruf beginnt zunächst mit der Besprechung des geistigen Lebens. Für dieses geistige Leben wird eine völlige Neugestaltung gefordert, sogar eine radikale Neugestaltung. Ich glaube nicht, daß heute jemand ohne weiteres gesund und ursprünglich über die Neugestaltung urteilen kann, wenn er nicht schon seit Jahrzehnten das geistige Leben so treiben mußte, wie es in der Zukunft einfach gesund betrieben werden muß. Gewiß, wenn man solche Dinge ausspricht, dann muß man etwas radikal sprechen und mancher kann dann sagen: Die Dinge sind nicht so schlimm gemeint. - Ich selbst habe niemals zum Betriebe eines geistigen Lebens in irgendeiner Abhängigkeit gelebt vom Staate oder anderen Korporationen. Ich habe mein ganzes Leben hindurch versucht, das Geistesleben nur aus sich selbst heraus zu pflegen. Das gerade soll durch den Aufruf als etwas allgemein Menschliches angestrebt werden. Denn wer so das Geistesleben pflegen mußte, wer niemals in seinen geistigen Bestrebungen abhängig sein wollte von irgendeinem Staat oder von etwas anderem in den abgelaufenen bürgerlichen Institutionen, der erlebt gerade mit Bezug auf das Geistesleben gar manches, was ihm Verständnis bringt für das proletarische Leben der Gegenwart. Man weiß, wie schwer es war, sich herauszuziehen aus den Fesseln des Geisteslebens, die so viel Unheil gebracht haben - mehr als Sie selbst heute mit Ihrer sozialistischen Gesinnung glauben können gerade in Verbreitung von Not und Elend für das leibliche und seelische Leben des Proletariats.