Rechtsbewußtsein entsteht aus Begegnung statt Begabung

Quelle: GA 330, S. 025-027, 2. Ausgabe 1983, 22.04.1919, Stuttgart

Was ist denn eigentlich Recht? Ja, ich habe mich wahrlich bemüht, durch Jahrzehnte hindurch, die verschiedenen Anschauungen der Menschen gerade über die Ideen des Rechtes zu durchschauen. Ich muß gestehen, wenn man lebensgemäß, wirklichkeitsgemäße also nicht theoretisch an das herantritt, was man unter dem Recht versteht, so sagt man sich zuletzt: Das Recht ist etwas, was als ein Ursprüngliches, als ein Elementares aus jeder gesunden Menschenbrust kommt. So wie die Fähigkeit, blau oder rot als Farbe zu sehen, aus dem gesunden Auge kommt, und so wie man niemals jemand, der ein krankes oder blindes Auge hat, die Vorstellung der blauen oder roten Farbe beibringen kann, so kann man niemand das beibringen, was auf irgendeinem konkreten Gebiete Recht ist, wenn nicht das Rechtsbewußtsein, das etwas Elementares, etwas Ursprüngliches ist, wie das Farbe-Sehen oder Ton-Hören etwas Elementares ist, in ihm lebt. Dieses Rechtsbewußtsein quillt, ich möchte sagen, aus einer ganz anderen Ecke des Seelenlebens hervor als alles, was sonst im Geistesleben in der Entwickelung der Menschheit geschaffen wird. Was sonst im Geistesleben geschaffen wird, das beruht alles auf Begabung. Das Rechtsbewußtsein hat im Grunde genommen mit der Begabung nichts zu tun. Es ist etwas, was sich aus der menschlichen Natur elementar entwickelt, aber nur im Umgange mit Menschen, so wie man auch die Sprache nur im Umgang mit Menschen lernen kann. Dieses Rechtsbewußtsein, ob es laut und deutlich spricht, ob es dunkel aus der menschlichen Seele hervorquillt, das ist etwas, was die menschliche Seele in sich ausbilden will. Als der Proletarier durch die modernen Bildungsverhältnisse, durch die Demokratie, teilnahm an dem allgemeinen Geistes- und Rechtsleben, Rechtsstaatsleben, da entstand auch bei ihm die Frage nach dem Rechte. Er aber fand, indem er nach dem Rechte fragte - ja, was fand er? Sehen Sie hinein in seine Seele, dann finden Sie die Antwort auf diese Frage. Er fand, wenn er von seinem Gesichtspunkte aus den Rechtspunkt beurteilte, nicht Rechte, sondern Vorrechte, bedingt durch die Unterschiede der Klassen der Menschheit. Er fand, daß dasjenige, was sich als positive Rechte festgesetzt hatte, eigentlich nur hervorgegangen war aus Vorrechten der bevorzugten Klasse, als Benachteiligung des Rechtes bei den besitzlosen Klassen. Er fand auf dem Rechtsboden den Klassenkampf anstatt der Auslebung des Rechtes. Das erfüllte ihn mit dem Bewußtsein, daß er auch nur vorwärts dringen könne, wenn er ein klassenbewußter Proletarier ist, wenn er aus dieser Klasse heraus sich sein Recht suche. Das führt ihn zu dem zweiten Gliede seiner Weltanschauung: die Klassenunterschiede zu überwinden, damit auf dem Boden, auf dem sich im Laufe der geschichtlichen Entwickelung diese Klassenunterschiede ergeben haben, die Struktur des Rechtsstaatslebens entstehen könne.