Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit für Mitte durch Geist

Quelle: GA 190, S. 179-181, 2. Ausgabe 1971, 13.04.1919, Dornach

Nun wollen wir ein wenig näher ins Auge fassen, warum eigentlich diese im Grunde doch großartige Geistesbewegung, die da geht von Walther von der Vogelweide bis herauf zum Goetheanismus, während sie nach dem Goetheanismus einen jähen Absturz erfährt, warum denn diese Geistesbewegung so gar nicht dahin gekommen ist, das soziale Leben irgendwie zu bewältigen, in dem sozialen Leben irgendwie Gedanken zu fassen. Man bedenke doch nur, daß selbst Goethe, der über vieles in der Welt die umfassendsten Ideen zu entwickeln verstand, eigentlich nur in gewissen Andeutungen, von denen man dreist sagen kann, daß sie ihm selber nicht ganz klar waren, zu sprechen verstand über dasjenige, was da als eine neue soziale Ordnung über die zivilisierte Menschheit heraufkommen muß. Im Grunde war schon die Tendenz nach der Dreigliederung des gesunden sozialen Organismus seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in dem Unterbewußtsein der Menschen vorhanden. Und die Rufe nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die nur dann Sinn bekommen werden, wenn einmal die Dreigliederung sich verwirklicht, sie bezeugten, daß diese unterbewußte Sehnsucht nach der Dreigliederung vorhanden war. Warum eigentlich kam sie nicht ans Tageslicht?

Das hängt mit der ganzen Artung des Geisteslebens Mitteleuropas zusammen. Ich habe gestern am Schlusse hingewiesen auf eine eigentümliche Erscheinung, ich habe gesagt: Der von mir so hochverehrte Herman Grimm, der mit seinen Ideen in so manches hineinleuchten konnte, was Künstlerisches, was Allgemein-Menschliches ist, was die Antike betrifft, er verfiel in die merkwürdige Unwahrheit, einen bloßen Wortphraseur wie Wildenbruch zu bewundern. Ich habe öfter im Lauf der Jahre - gestatten Sie diese persönliche Bemerkung - auf etwas hingewiesen, was, wenn man es so erzählt, recht unbedeutend dem Zuhörer erscheinen könnte, was aber für den, der das Leben symptomatologisch betrachtet, eine große, tief gehende Bedeutung haben kann.

Ich hatte unter manchen anderen Gesprächen, die ich führen durfte in der Zeit, als ich mit Herman Grimm persönlichen Verkehr hatte, auch einmal ein Gespräch mit ihm, im Verlauf dessen ich von meinem Gesichtspunkte aus auf manches hinwies, was geistig zu verstehen ist. Und wenn ich dies erzählt habe, habe ich immer darauf aufmerksam gemacht, daß Herman Grimm für eine solche Rede über das Geistige nur eine abwehrende Handbewegung hatte; er meinte, das ist etwas, worauf er sich nicht einläßt. Es war in diesem Momente eine ungeheuer wahre Bemerkung, die in dieser Handbewegung bestand. Inwiefern war diese Bemerkung ungeheuer wahr? Wahr war sie insofern, als Herman Grimm bei allem seinem Eingehen auf manches in der sogenannten geistigen Entwickelung der Menschheit, in der Kunst, in der Darlebung des Allgemein-Menschlichen, auch nicht die geringste Ahnung hatte von dem, was eigentlich Geist sein muß dem Menschen des fünften nachatlantischen Zeitalters. Herman Grimm wußte einfach nicht vom Gesichtspunkte aus eines Menschen des fünften nachatlantischen Zeitraums, was Geist ist. Wenn man solch eine Sache bespricht, dann ist es schon nötig, daß man nicht schroff sich auf den Gesichtspunkt der Wahrheit stellt; wenigstens bis zum Geiste hin war ein solcher Mensch wie Herman Grimm wahr, weil er nichts wußte von der Art, wie man über den Geist denkt, machte er eine abwehrende Bewegung. Wäre er einer gewesen von den Phraseuren, die heute wieder als Propheten maskiert herumgehen und die Menschen bessern wollen, dann würde er geglaubt haben, er könne über den Geist mitreden, dann würde er geglaubt haben, wenn man sagt: Geist, Geist, Geist -, dann wäre damit irgend etwas gesagt, was auch entsprechen würde einem Inhalt, den man in seiner eigenen Seele hegt.

Unter denjenigen, die auch viel vom Geiste gesprochen haben in den letzten Jahrzehnten, ohne eine Ahnung zu haben von dem, was Geist ist, sind ja auch die Majorität der Theosophen zu verzeichnen. Denn eigentlich kann man schon sagen, daß unter allen geistlosen Schwätzereien, die in der neuesten Zeit gepflogen worden sind, die theosophischen die betrübendsten waren, auch die schlimmsten Früchte zum Teil getragen haben.

Wenn man aber so etwas ausspricht wie dasjenige, was ich eben in bezug auf Herman Grimm gesagt habe, den ich dabei nicht als Persönlichkeit, sondern als Repräsentanten, als Typus unserer Zeit ins Auge fassen möchte, dann kann man doch die Frage stellen, wie es denn eigentlich möglich ist, daß ein solcher, das mitteleuropäische Leben ganz und gar repräsentierender Mensch keine Ahnung davon hat, wie man denken muß, wenn man über den Geist denkt. Damit ist nämlich Herman Grimm wirklich nur der Repräsentant für mitteleuropäisches Leben. Denn fassen wir eben gerade diejenige Kultur ins Auge, die ich gestern charakterisiert habe, die als die Kultur des Bürgertums, sagen wir im Jahre 1200 - approximativ natürlich - aufgeht und dann bis in den Goetheanismus hinein sich erstreckt, fassen wir gerade diese Kultur, diese glanzvolle Kultur ins Auge, dann muß uns als das Charakteristische dieser Kultur, die ja deshalb nicht geringer geschätzt zu werden braucht, erscheinen, daß sie im schönsten Sinne von demjenigen durchpulst ist, was man Seele nennt, daß ihr aber ganz und gar dasjenige fehlt, was man Geist nennen kann. Das muß man nur mit all der dazu nötigen tragischen Empfindung ins Auge fassen können, daß gerade dieser glanzvollen Kultur dasjenige fehlt, was man Geist nennen könnte. Nur muß man natürlich den Geist in dem Sinne nehmen, wie man den Geist zu nehmen lernt durch die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft.