Besitz- und Arbeiterrechte durch demokratischen Rechtsstaat

Quelle: GA 329, S. 122-125, 1. Ausgabe 1985, 02.04.1919, Basel

Die zweite proletarische Forderung, sie entspringt dem Gebiet des Rechtslebens, des eigentlich politischen Staates. Es ist schwierig, theoretisch über das zu reden, was eigentlich das Recht ist. Jedenfalls ist das Recht etwas, das alle Menschen angeht, und man braucht eigentlich über das Recht nur das Folgende zu sagen: Geradeso, wie man mit dem, der blind ist, nicht sprechen kann über das, was eine blaue Farbe ist, aber man nicht viel zu theoretisieren nötig hat über die blaue Farbe mit dem, der sieht, so läßt sich auch über das Recht mit denjenigen nicht reden, welche für das Recht blind sind. Denn auf einem ursprünglichen menschlichen Rechtsbewußtsein ruht das Recht. Auf den Geboten des politischen Staates, den sich in den letzten Jahrhunderten die herrschenden Klassen so fein zurechtgezimmert haben, suchte der Proletarier sein Recht, sein Recht vor allen Dingen mit Bezug auf sein Arbeitsgebiet. Was fand er? Er fand sich zunächst eingespannt nicht in den Rechtsstaat, er fand sich eingespannt in den Wirtschaftsstaat. Und da sah er, daß gegenüber allen Humanitätsideen, gegenüber allen Ideen von reiner Menschlichkeit für ihn ein Rest alter Unmenschlichkeit, ein furchtbarer Rest alter Unmenschlichkeit geblieben ist. Das ist wiederum etwas, was so zündend durch Karl Marx eingeschlagen hat in die Proletarierseelen. Sklaven hat es in alten Zeiten gegeben. Der ganze Mensch wurde wie eine Ware gekauft und verkauft. Später hat es Leibeigene gegeben. Da wurde dann weniger vom Menschen gekauft und verkauft als in der alten Sklavenzeit. Auch jetzt noch wird vom Menschen etwas gekauft und verkauft wie eine Ware. Was Karl Marx und seine Nachfolger immer wieder und wiederum so verständlich für die proletarische Seele ausgesprochen haben, das ist, daß die menschliche Arbeitskraft verkauft wird. Die Arbeitskraft wird auf dem modernen Warenmarkt, wo nur Waren sein sollten, selber wie eine Ware behandelt. Das ruht in den Tiefen, wenn auch oft unbewußt, der proletarischen Seele, so daß sich diese sagt: Die Zeit ist gekommen, wo meine Arbeitskraft nicht mehr Ware sein darf.

Das ist die zweite proletarische Forderung. Sie entspringt dem Rechtsboden. Indem Karl Marx auf dieses Verhältnis aufmerksam machte, da sprach er wiederum eines seiner zündenden Worte. Aber noch radikaler, als Karl Marx selber dabei zu Werke gegangen ist, muß gerade auf diesem Gebiete zu Werke gegangen werden.

Klar muß es werden: eine Weltordnung, eine Gesellschaftsordnung muß heraufziehen, in der die Arbeitskraft des Menschen keine Ware mehr ist, in der sie vollständig entkleidet wird des Charakters der Ware. Denn muß ich meine Arbeitskraft verkaufen, so kann ich auch gleich meinen ganzen Menschen verkaufen. Wie kann ich meinen Menschen noch zurückbehalten, wenn ich an irgend jemanden meine Arbeitskraft verkaufen muß? Er wird Herr meines ganzen Menschen. Damit ist der letzte Rest des alten Sklaventums, aber wahrhaftig nicht in geringerer Gestalt, heute noch da in dieser «humanen» Zeit.

So fand sich der Proletarier mit seiner Arbeitskraft und deren Verkauf vom Rechtsleben in das Wirtschaftsleben hinausgestoßen. Und wenn gesagt wird, nun, es besteht ja der Arbeitsvertrag, so muß dem entgegengehalten werden, daß so lange, wie überhaupt über das Arbeitsverhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter ein Vertrag geschlossen werden darf, so lange ist das Sklavenverhältnis in bezug auf die Arbeitskraft da. Erst dann, wenn hinübergenommen werden wird auf den bloßen Rechtsboden das Verhältnis mit Bezug auf die Arbeit zwischen Arbeitsleiter und physischen Arbeitern, erst dann ist dasjenige da, was die moderne Proletarierseele fordern muß.

Das kann aber nur dann sein, wenn ein Verhältnis nurmehr abgeschlossen wird nicht über den Lohn, sondern lediglich abgeschlossen wird über dasjenige, was von dem physischen und dem geistigen Arbeiter gemeinschaftlich produziert wird. Verträge kann es nur geben über Waren, nicht über Stücke Menschen. Statt sein Arbeitsverhältnis geschützt zu wissen auf dem Boden des Rechtes, was fand der moderne Proletarier auf diesem Rechtsboden? Fand er Rechte? Wenn er auf sich sah, fand er wahrhaftig keine Rechte. Gewisse Leute hatten sich ja allmählich angewöhnt, diesen modernen Staat wie eine Art Gottheit, wie einen Götzen zu empfinden. Fast wie der Faust zum Gretchen im ersten Teile über Gott sprach, so sprachen gewisse Leute über den modernen Staat. Man könnte sich ganz gut denken, daß ein moderner Arbeitsunternehmer seine Arbeiter unterrichtete über die Göttlichkeit des modernen Staates und sagte von diesem Staat:

Der Allerhalter, der Allumfasser, faßt und erhält er nicht dich, mich und sich selbst?» Denken wird er dabei wahrscheinlich immer: besonders mich. - Rechte erwartete das Menschheitsbewußtsein auf dem Boden des Staates. Vorrechte derjenigen, welche sich diese Vorrechte aus dem Wirtschaftsleben, namentlich in der neueren Zeit, errungen haben, fand der moderne Proletarier. Statt desjenigen, was in bezug auf alles Recht gefordert werden muß - Gleichheit aller Menschen -, was fand der moderne Proletarier? Wenn man hinblickt auf das, was er da fand auf dem Boden des Rechtsstaates, dann kommt man zu seiner dritten Forderung; denn er fand auf dem Boden, auf dem er das Recht finden sollte, namentlich das Recht seiner Arbeit und das entgegengesetzte Recht, das Recht des sogenannten Besitzers, er fand den Klassenkampf. Der moderne Staat ist für den modernen Proletarier nichts weiter als der klassenkämpferische Staat.

Damit bezeichnen wir die dritte proletarische Forderung als diejenige, welche darauf hinzielt, den Klassenstaat zu überwinden und den Rechtsstaat an seine Stelle treten zu lassen. Arbeit und Arbeitsleitung sind Gegenstände des Rechtes. Was ist denn schließlich der Besitz? Der wird im Laufe der neueren Zeit etwas werden müssen, das zu den alten verrosteten Dingen gehört; denn was ist er in Wirklichkeit? Im sozialen Organismus ist nur der Begriff zu brauchen, der da sagt: der Besitz ist das Recht irgendeines Menschen, sich irgendeiner Sache zu bedienen. Besitz beruht immer auf einem Rechte. Nur dann, wenn auf dem Boden, aber jetzt wahrer demokratischer Gesellschaftsordnung, die Rechte geregelt sind, dann werden den sogenannten Besitzrechten die Arbeiterrechte gegenüberstehen. Nur dann aber kann dasjenige erfüllt werden, was des modernen Proletariers berechtigte Forderungen sind.