Recht auf Nichtarbeitszeit ermöglicht Empfänglichkeit für Geistesleben

Quelle: GA 023, S. 084-085, 6. Ausgabe 1976, 24.03.1919, Stuttgart

Nicht nur die Hervorbringung, sondern auch die Aufnahme dieses Geisteslebens durch die Menschheit muß auf dem freien Seelenbedürfnis beruhen. Lehrer, Künstler und so weiter, die in ihrer sozialen Stellung nur im unmittelbaren Zusammenhange sind mit einer Gesetzgebung und Verwaltung, die aus dem Geistesleben selbst sich ergeben und die nur von dessen Impulsen getragen sind, werden durch die Art ihres Wirkens die Empfänglichkeit für ihre Leistungen entwickeln können bei Menschen, welche durch den aus sich wirkenden politischen Staat davor behütet werden, nur dem Zwang zur Arbeit zu unterliegen, sondern denen das Recht auch die Muße gibt, welche das Verständnis für geistige Güter weckt. Den Menschen, die sich «Lebenspraktiker» dünken, mag bei solchen Gedanken der Glaube aufsteigen: Die Menschen werden ihre Mußezeit vertrinken, und man werde in den Analphabetismus zurückfallen, wenn der Staat für solche Muße sorgt, und wenn der Besuch der Schule in das freie Verständnis der Menschen gestellt ist. Möchten solche «Pessimisten» doch abwarten, was wird, wenn die Welt nicht mehr unter ihrem Einfluß steht. Dieser ist nur allzu oft von einem gewissen Gefühle bestimmt, das ihnen leise zuflüstert, wie sie ihre Muße verwenden, und was sie nötig hatten, um sich ein wenig «Bildung» anzueignen. Mit der zündenden Kraft, die ein wirklich auf sich selbst gestelltes Geistesleben im sozialen Organismus hat, können sie ja nicht rechnen, denn das gefesselte, das sie kennen, hat auf sie nie eine solch zündende Kraft ausüben können.