Organismusvergleich weckt Mißtrauen

Quelle: GA 190, S. 032-034, 2. Ausgabe 1971, 22.03.1919, Dornach

Wir wollen heute den sozialen Organismus noch einmal betrachten, und zwar so, daß wir ihn in Parallele bringen mit dem menschlichen natürlichen Organismus. Wenn eine solche Parallele gemacht wird, muß man sie nehmen als ein Mittel, manche Dinge mit Bezug auf den sozialen Organismus besser zu verstehen. Auf der anderen Seite dürfen Sie gegenüber der Außenwelt nicht allzu aufdringlich sein mit solchen Parallelen, weil diese heute ein starkes Mißtrauen gegen solche Parallelen hat und glaubt, man wolle ein müßiges Spiel mit Analogien treiben. Dann wollen die Leute die Sache zurückweisen. Das wird für Sie besonders notwendig sein zu berücksichtigen. Geisteswissenschaftlich ist die Parallele, die wir schon öfter gezogen haben, und die wir heute unter einem gewissen Gesichtspunkte verfolgen werden, durchaus zum Ziele führend, durchaus aufklärend. Sie klärt manche soziale Erscheinung in der Gegenwart auf. Aber, ich möchte Sie bitten, sie mehr im Hintergrunde zu halten, bis sich die landläufigen Vorurteile gegen eine Parallelisierung des menschlichen natürlichen 0rganismus mit dem sozialen Organismus verlaufen haben. Auch ich selbst gebrauche ja diese Parallele der Außenwelt gegenüber. Aber ich verwahre mich dagegen, ein müßiges Analogiespiel zu treiben. So habe ich es gemacht in meinen Zürcher Vorträgen über die soziale Frage, so mache ich es in der Schrift, die jetzt über die soziale Frage erscheinen wird. Aber diese Vorsicht wird nicht immer von Kennern der anthroposophischen Weltanschauung gebraucht. Deshalb ermahne ich ausdrücklich zur Vorsicht.

Nun, mit dieser Einschränkung wollen wir einmal heute von einem gewissen Gesichtspunkte den sozialen Organismus noch einmal betrachten. Den gewöhnlichen natürlichen Organismus teilen wir ja in drei Glieder, in das Kopfsystem, wir können auch sagen Nerven-Sinnessystem, in das Lungen-Herzsystem, wir können auch sagen rhythmisches System, und in das Stoffwechselsystem. Alle Tätigkeit des menschlichen Organismus ist in diesen drei Systemen erschöpft. Was im menschlichen Leibe vorgeht, kann unter eine dieser drei Kategorien gebracht werden. Bemerkenswert ist dabei dieses, daß jedes dieser Systeme eine eigene, für sich bestehende Verbindung mit der Außenwelt hat. Gerade daraus ersieht man, daß es durchaus nicht willkürlich ist, den natürlichen menschlichen Organismus in diese drei Systeme zu gliedern. Das Nerven-Sinnessystem steht durch die Sinne in Verbindung mit der Außenwelt, das Atmungssystem durch Atmungsorgane, das Stoffwechselsystem durch die Ernährungsorgane. Jedes dieser Systeme steht für sich mit der Außenwelt in einer abgesonderten Beziehung.

Nun, ebenso können wir den sozialen Organismus in drei Glieder einteilen - in ein erstes, zweites und drittes Glied -, so daß sie selbständig sind. Beim sozialen Organismus haben wir dann als die drei Glieder zu unterscheiden das Wirtschaftssystem, das Staatssystem oder Rechtssystem, und das System der geistigen Organisation.

I. Kopfsystem
Wirtschaftssystem
Nerven-Sinnessystem

II. Lungen-Herzsystem
Staatssystem
Rhythmisches System

III. Stoffwechselsystem
geistige Organisation

Ich bitte Sie, das durchaus zu berücksichtigen, was ich jetzt auf die Tafel geschrieben habe, denn das ist sehr wichtig. Der Kopf des sozialen Organismus ist das Wirtschaftssystem. Das rhythmische System, das Zirkulationssystem, das Lungen-Herzsystem, das ist das Staatssystem. Und das Stoffwechselsystem, das ist in der geistigen Organisation beschlossen. Deshalb sagte ich immer: Will man sich die Sache richtig vorstellen, so muß man sich gegenüber dem menschlichen natürlichen Organismus vorstellen, daß der soziale Organismus auf dem Kopfe steht. Wenn man ein müßiges Analogiespiel treibt, dann wird man glauben, die geistige Organisation entspreche beim Menschen dem Kopfsystem. Das ist nicht der Fall. Die geistige Organisation entspricht dem Stoffwechselsystem. Wir können sagen, der soziale Organismus nährt sich von demjenigen, was die Menschen im sozialen Organismus geistig leisten. Der soziale Organismus hat seine Kopfbegabung in der Naturgrundlage. Wenn ein gewisses Volk in einer reichen Gegend wohnt mit vielen Erzgruben, mit reichen Bodenschätzen, mit fruchtbarem Boden, so ist der soziale Organismus begabt, bis zur Genialität kann er begabt sein. Wenn der Boden unfruchtbar ist, wenn wenig Bodenschätze da sind, dann ist der soziale Organismus töricht, unbegabt.

Also Sie müssen nicht einfach analogisieren, sondern Sie müssen gerade, wenn Sie die Parallele bilden, auf das Richtige gehen. Sie wissen ja, man muß auch gegen das bloße Spielen mit Begriffen aus der geisteswissenschaftlichen Erfahrung heraus das Richtige auf anderen Gebieten suchen. Wenn die Menschen bloß ein Analogiespiel treiben, so werden sie zum Beispiel sagen: Man kann den Wachzustand des Menschen vergleichen mit dem Sommer, den Schlafzustand mit dem Winter. Sie wissen, daß das ganz falsch wäre. Ich habe Ihnen wiederholt auseinandergesetzt, daß wenn man diese Parallele zieht, Jahreszeiten und menschliches Leben, so muß man gerade umgekehrt den Sommer als den Schlafzustand und den Winter als den Wachzustand der Erde ansehen. So müssen Sie das Wirtschaftsleben als den Kopf des sozialen Organismus ansehen. Und dasjenige, was die Menschen geistig leisten - wohlgemerkt in der Wirkung auf den sozialen Organismus -, müssen Sie als die Nahrungsmittel des sozialen Organismus ansehen.