Demokratie als Abschleifen einseitiger Interessen

Quelle: GA 328, S. 127-128, 1. Ausgabe 1977, 25.02.1919, Zürich

Dasjenige, was Sie geltend gemacht haben, das bekommt seine Form dadurch, daß Sie übersehen haben, was eintreten muß durch die Gliederung zu relativer Selbständigkeit des Rechtsstaates auf der einen Seite, und des Wirtschaftslebens auf der anderen Seite. Die Arbeitsorganisationen, die zum Teil Produktionsgesellschaften, oder Konsumtionsgesellschaften, oder auch Verbindungen zwischen beiden sein werden, die haben es überhaupt nur zu tun mit Wirtschaftsfaktoren, die innerhalb des Wirtschaftslebens selbst spielen.

Die Regelung des Arbeitsrechtes, die fällt dem relativ selbständigen Staate zu. Dort wird nicht anders entschieden als auf demokratischer Basis, sagte ich, alles dasjenige, was da betrifft das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Deshalb erwähnte ich auch bei dem Boden dieses rein demokratischen Staates, daß das ein Verbindungsglied zwischen den beiden anderen Faktoren ist; auf diesem Boden herrscht Gleichheit der Menschen vor dem Gesetze. Da werden aufhören die bloßen Wünsche einzelner wirtschaftlicher Organisationen, weil sie sich in dem demokratischen Rechtsleben ausgleichen müssen mit den Interessen anderer Kreise. - Also das ist gerade das, was bewirkt werden soll; dem soll eben abgeholfen werden, was Sie als einen Schaden empfinden, der ganz gewiß entstehen würde, wenn zum Beispiel die Arbeitszeit selbst festgesetzt würde innerhalb der Organisation des Wirtschaftslebens. Die Organisationen des Wirtschaftslebens haben es nur zu tun mit dem Wirtschaftsleben selbst: die Regelung im Sinne des Arbeitsrechtes also. Aber die Feststellung der Arbeitszeit, die unterliegt nurmehr der Staatskörperschaft, die es zu tun hat mit dem Verhältnis von Mensch zu Mensch.

Wir dürfen nicht vergessen, welch große Veränderungen von Mensch zu Mensch dadurch auftreten werden, daß einseitige Interessen sich abschleifen werden. Selbstverständlich, ganz vollkommen wird natürlich nichts auf der Welt sein; aber einseitige Interessen werden sich abschleifen im demokratischen Staatsgebilde, das die Gleichheit des Menschen vor dem Menschen zu seiner Grundlage hat.

Denken wir nur daran, daß wenn zum Beispiel eine gewisse Wirtschaftsorganisation ein Interesse hat, eine bestimmte kurze Zeit zu arbeiten, so wird sie sich bequemen müssen, dieses Interesse auszugleichen mit den Interessen derjenigen Menschen, die leiden würden unter dieser kurzen Arbeitszeit. Aber wenn man gar nicht denkt an irgendwelche unterbewußte Kräfte, so wird sich - geradeso wie sich im Naturorganismus wenigstens annähernd ergibt, immer annähernd natürlich, daß immer gleichviel Männer und gleichviel Frauen da sind, was aber doch natürlich nicht ein striktes Naturgesetz sein darf oder werden kann -, so wird sich auch ergeben, daß, wenn in der richtigen Weise die einzelnen Faktoren des sozialen Organismus zusammenwirken, nicht ein Unzuträgliches dadurch entstehen wird, daß einzelne kleine Interessen werden entwickeln können, die für andere in weitestem Maße schädlich sind.

Dasjenige, was meiner sozialen Denkweise zugrunde liegt, das unterscheidet sich von vielen anderen sozialen Denkweisen dadurch, daß diese letzteren mehr abstrakt sind. Logisch kann man immer das eine von dem anderen sehr gut ableiten; es folgt manches Logische aus dem anderen. Entscheidend in solchen Fragen kann aber eigentlich nur die Lebenserfahrung sein. Natürlich kann ich nicht logisch beweisen - das kann kein Mensch -, daß nicht in einem solchen zukünftigen Organismus einmal eine Diskrepanz der Interessen eintreten kann; aber anzunehmen ist, daß, wenn die Kräfte sich innerhalb ihres eigenen Kreises, der ihnen angemessen ist, entwickeln können, dann eine humane Entwickelung eintreten wird. Ich meine, wenn Sie das gerade betrachten, was ich vorlegen möchte, die Festsetzung der Arbeitszeit aus dem bloßen Wirtschaftsprozeß heraus in den Rechtskreis des Staates, daß dann diese Schäden nicht werden entstehen können im praktischen Gebiete. Das ist es, was ich dazu zu sagen habe.