Einzig mögliches Existenzminimum ist Bodenfruchtbarkeit durch Einwohnerzahl

Quelle: GA 189, S. 030-033, 2. Ausgabe 1957, 16.02.1919, Dornach

Zur Erwerbung von sozialem Verständnis ist erforderlich, daß wir uns in die Lage versetzen, auf das Fundamentale, auf das Primäre zurückzugehen und nicht in dem Sekundären oder Tertiären, in dem, was nur Folge-Erscheinung ist, mit unserem Verständnis stecken zu bleiben. Man kann beispielsweise aus einer gewissen Lebenslage heraus sagen: Der Mensch braucht im Minimum so und so viel an Werten - also sagen wir an Geld, weil wir schon einmal die Werte in Geld umgesetzt haben -, um sein Leben zu fristen. Man kann von einem Existenzminimum reden in einer bestimmten Lebenslage. Man kann aber von diesem Existenzminimum so reden, daß man auf der einen Seite etwas scheinbar höchst Selbstverständliches und auf der anderen einen völligen Unsinn sagt. Das will ich Ihnen an einem Beispiel versuchen klar zu machen.

Wenn Sie die gegebenen Lebensverhältnisse auf irgendeinem Territorium nehmen, so können Sie vielleicht schon aus der Empfindung heraus sagen: ein Handarbeiter braucht so und so viel als Existenzminimum, sonst kann er nicht leben in dieser Gemeinschaft. Das kann ein scheinbar ganz selbstverständlicher Gedanke sein. Wie ist es aber, wenn sich das nach den Voraussetzungen, die ich eben angegeben habe, innerhalb eines bestimmten sozialen Organismus nicht verwirklichen läßt? Diese Frage müssen Sie sich vor allen Dingen beantworten: was dann, wenn das zu verwirklichen unmöglich ist?

Das ist nun kein primärer Gedanke, wenn man so überlegt, wie ich es jetzt dargestellt habe. Bei der Forderung eines abstrakten Existenzminimums geht man nicht auf die fundamentalen Dinge zurück, sondern man knüpft an etwas Sekundäres an, an eine bloße Folge-Erscheinung. Man muß zur Erlangung seines sozialen Verständnisses immer in der Lage sein, an die fundamentalen Dinge anzuknüpfen. Fundamental ist, daß man sich eine lebensfördernde Ansicht darüber verschaffen kann, wie gerade nach den Lebensbedingungen des sozialen Organismus das Existenzminimum sein kann. Mit lebensfördernd meine ich in diesem Falle eine solche Ansicht, daß eine mögliche soziale Lage und ein mögliches soziales Zusammenleben der Menschen daraus folgt. Das ist das Primäre. Und nun kommt man allerdings auf gewisse Vorstellungen, die der heutigen Menschheit zum großen Teil recht unbequem sind, weil in den letzten Jahrhunderten versäumt worden ist, die primitive Schulbildung, die auf solche Dinge hinarbeiten soll, wirklich in diese Richtung zu lenken. Es dürfte den Menschen bald klar werden, daß man, um ein halbwegs gebildeter Mensch zu sein, nicht bloß wissen soll, daß drei mal neun siebenundzwanzig ist, sondern man sollte zum Beispiel auch wissen, was das für ein Ding ist, das man 'Grundrente' nennt. Nun frage ich Sie, wieviele Menschen heute eine deutliche Vorstellung haben von dem, was Grundrente ist? Ohne aber den sozialen Organismus auch in bezug auf solche Dinge zu überblicken, läßt sich überhaupt keine gedeihliche Fortentwicklung der Menschheit herbeiführen.

Die verworrenen Verhältnisse auf diesem Gebiete führen heute die Menschen zu ihren verkehrten Vorstellungen. Die Grundrente, die man irgendwie berechnen kann nach der Produktivität, die ein Stück Boden auf irgendeinem Territorium hat, ergibt für ein staatlich begrenztes Territorium eine bestimmte Summe. Der Boden ist nach seiner Produktivität, das heißt nach der Art oder nach dem Grade der rationellen Ausnützung gegenüber der Gesamtwirtschaft so und so viel wert. Für die Menschen ist es heute sehr schwierig, diesen einfachen Bodenwert als klaren Begriff zu denken, weil sich im heutigen kapitalistischen Wirtschaftsleben der Kapitalzins oder das Kapital überhaupt konfundiert hat mit der Bodenrente, weil anstelle des wirklichen volkswirtschaftlichen Wertbegriffes der Bodenrente durch das Hypothekenrecht, das Pfandbriefwesen, das Obligationenwesen ein Truggebilde getreten ist. Es ist im Grunde genommen alles in unmögliche, unwahre Vorstellungen hineingetrieben worden. Es ist natürlich nicht möglich, im Handumdrehen eine reale Vorstellung von der Grundrente zu bekommen. Aber denken Sie einfach als Grundrente den volkswirtschaftlichen Wert des Grund und Bodens eines Territoriums mit Bezug auf seine Produktivität. Nun besteht ein notwendiges Verhältnis zwischen dieser Grundrente und dem, was ich vorhin als Existenzminimum des Menschen angegeben habe. Heute gibt es ja manche Sozialreformer und Sozialrevolutionäre, die von einer Abschaffung der Grundrente überhaupt träumen, die glauben, daß zum Beispiel die Grundrente abgeschafft ist, wenn man den gesamten Grund und Boden - wie sie sagen - verstaatlicht oder vergesellschaftet. Dadurch, daß man etwas in eine andere Form bringt, ist aber das Wesentliche nicht immer geändert. Ob nun die ganze Gemeinschaft den Grund und Boden besitzt, oder ob ihn so und so viele einzelne besitzen, das ändert gar nichts am Vorhandensein der Grundrente. Sie maskiert sich nur, sie nimmt andere Formen an. Grundrente so definiert, wie ich es vorhin getan habe, ist eben immer da. Nehmen Sie auf einem bestimmten Territorium die Grundrente und dividieren Sie sie durch die Einwohnerzahl des betreffenden Territoriums, so bekommen Sie als Quotienten das allein mögliche Existenzminimum. Das ist ein Gesetz, das bestimmt ist wie ein Gesetz der Physik, das nicht anders sein kann. Das ist aber eine primäre Tatsache, etwas Fundamentales, daß niemand in Wirklichkeit in einem sozialen Organismus mehr verdient als die gesamte Grundrente dividiert durch die Einwohnerzahl ergibt. Was mehr verdient wird, entsteht durch Koalitionen und Assoziationen, durch welche Verhältnisse geschaffen werden, in denen eine Persönlichkeit mehr Werte erwerben kann als eine andere. Es kann aber in den mobilen Besitz eines einzigen Menschen gar nicht mehr übergehen, als was ich jetzt bezeichnete. Aus diesem Minimum, das überall wirklich existiert, wenn auch die realen Verhältnisse es zudecken, geht alles wirtschaftliche Leben, insofern es sich bezieht auf den mobilen Besitz des Einzelnen, hervor. Von dieser fundamentalen Tatsache muß ausgegangen werden. Darauf kommt es an, daß man nicht von einer sekundären, sondern von dieser primären Tatsache ausgeht. Sie können diese primäre Tatsache vergleichen mit irgendeiner anderen, zum Beispiel mit der primären Tatsache, die auch für das Wirtschaftsleben gilt, daß auf einem bestimmten Territorium nur eine bestimmte Menge eines Rohproduktes ist. Sie könnten es natürlich auch als wünschenswert bezeichnen, wenn mehr von diesem Rohprodukt vorhanden wäre, und könnten ausrechnen, wieviel mehr man dann von diesem Territorium haben würde. Aber das Rohprodukt läßt sich nicht beliebig vermehren; dies ist eine primäre Tatsache. Ebenso ist es eine primäre Tatsache, daß in Wirklichkeit in einem sozialen Organismus durch Arbeit - auch wenn einer noch so viel arbeitet - nicht mehr verdient werden kann als das, was dieser Quotient, den ich angeführt habe, ergibt. Alles übrige ist, wie gesagt, durch Koalitionen unter den Menschen erworben.