Privat- und Strafurteil als Teil des Geisteslebens

Quelle: GA 328, S. 091-093, 1. Ausgabe 1977, 12.02.1919, Zürich

Indem die bürgerlich leitenden Kreise gewissermaßen den Blick wie hypnotisiert nur auf den Staat gerichtet hatten, wurde ihnen der Staat etwas wie ein Götze. Es wurde die Aufmerksamkeit nicht hingelenkt auf die notwendige Differenzierung des sozialen Organismus in die drei Glieder. Und so kam es, daß in der neueren Zeit auch aufgesogen, absorbiert wurde von dem Staate, von dem politischen Leben im engeren Sinne das geistige Leben.

Und ich habe schon aufmerksam darauf gemacht, daß zu diesem geistigen Gliede des sozialen Organismus nun auch gerechnet werden muß, was heute noch manchem nun auch paradox erscheinen wird, die wirkliche Praxis des privaten und des strafrechtlichen Urteilens. So sonderbar das klingt, auch da gibt es schon eine Tendenz im modernen Leben, die nur nicht in der richtigen Weise beurteilt wird. Was immer mehr und mehr von einer eben verfehlten Psychologie in Anspruch genommen worden ist für die Rechtsprechung, das ist es, was tendiert nach einem noch nicht erkannten, aber notwendigerweise zu erkennenden Prinzip der Einverleibung des privat- und strafrechtlichen Wirkens in das geistige Glied, das wiederum mit relativer Selbständigkeit dasteht, auch mit relativer Selbständigkeit dasteht gegenüber all dem Leben, das sich als das engere politische Leben entwikkelt, das sich als das Leben des öffentlichen Rechtes, der Gesetzgebung entwickelt. Gewiß, es wird in Zukunft in einem gesunden sozialen Organismus der Verbrecher zum Beispiel zu suchen sein von dem, was sich im zweiten Gliede, im politischen Gliede ergibt. Wenn er aber gesucht ist, dann wird er abgeurteilt von dem Richter, dem er in einem individuellen menschlichen Verhältnis gegenübersteht.

Über diese Frage kann auch nur der vielleicht aus der Geschichte heraus urteilen, der wie ich, der zu Ihnen jetzt spricht, Jahre, jahrelang beobachten konnte auf einem Territorium, wo es wahrhaftig schwer wurde, einheitlich zu regieren, und wo man doch, ich möchte sagen, zwangsmäßig einheitlich staatlich regieren wollte: auf einem Territorium wie in Österreich. Da konnte man beobachten, was es ergeben hätte, wenn über die reinen Sprachgrenzen hinüber freie Gerichtsbarkeit dagewesen wäre; wenn sich trotz der Sprachgrenzen der in einem deutschen Gebiete wohnende Böhme den benachbarten tschechischen oder böhmischen Richter drüben, der böhmische Bewohner wiederum seinen Richter in dem deutschen Gebiete hätte wählen können. Man hat gesehen, wie segensreich dieses Prinzip gewirkt hat in dem leider Anfang gebliebenen Bestreben der verschiedenen Schulvereine.

Darinnen liegt etwas, was, ich möchte sagen, wie ein schwerer Alpdruck heute noch immer dem, der dieses österreichische Leben miterlebt hat, auf der Seele ruht, daß dieses Ei des Kolumbus nicht gefunden worden ist: die freie Wahl des Richters und das lebendige Zusammenwirken des Klägers, des Richters und des Angeklagten, statt des Richters aus dem zentralisierten politischen Staate heraus, der nur maßgebend sein kann nicht für die Rechtsprechung, sondern für das Aufsuchen und Abliefern des Verbrechers oder dann für die Ausführung des Urteils.

So paradox das heute noch der Menschheit klingt, es muß einverleibt werden das Verhältnis des Menschen zu seinem Richter in straf- und privatrechtlicher Beziehung dem geistig selbständigen Gliede. Schon vorgestern habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß nicht abhängen wird die äußere Verwaltung, die Wahl der Personen in dem geistigen Gliede vom Staate.