Drei goldene Ideale durch Dreigliederung

Quelle: GA 328, S. 037-040, 1. Ausgabe 1977, 05.02.1919, Zürich

Natur, Menschenarbeit und Kapital sind in der chaotischsten Weise hinein konfundiert worden in den Einheitsstaat oder sind anarchisch draußen geblieben, außerhalb dieses Einheitsstaates. Es muß erkannt werden, daß sowohl das Leben der geistigen Kultur, das beruht auf den körperlichen und geistigen Anlagen der Menschen und ihrer Ausbildung, als auch das öffentliche, politische und Rechtsleben, daß sie die Aufgabe haben, gerade auszusondern, für sich zum selbständigen Leben zu bringen das, was das System des Wirtschaftsorganismus ist.

Ich kann noch, um mich vielleicht verständlich zu machen, soweit dies schon heute notwendig ist, zu dem Folgenden greifen. Als aus allerdings anderen Grundlagen heraus als diejenigen sind, in denen wir heute nun schon leben, auftauchte aus tiefen Untergründen der menschlichen Natur heraus der Ruf nach einer Neugestaltung des sozialen Organismus, da hörte man als Devise dieser Neuorganisation die drei Worte: Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit. Nun wohl, wer sich mit vorurteilslosem Sinn und mit einem gesunden Menschheitsempfinden einläßt auf alles wirklich Menschliche, der kann natürlich nicht anders als die tiefste Sympathie und das tiefste Verständnis empfinden für alles das, was da liegt in den Worten Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit.

Dennoch, ich kenne ausgezeichnete Denker, tiefe, scharfsinnige Denker, welche immer wieder und wiederum im Laufe des 19. Jahrhunderts sich Mühe gegeben haben, zu zeigen, wie es unmöglich ist, in einem einheitlichen sozialen Organismus die Ideen von Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit zu verwirklichen. So hat ein scharfsinniger Ungar den Nachweis zu führen gesucht, daß diese drei Dinge, wenn sie sich verwirklichen sollen, wenn sie eindringen sollen in die menschliche soziale Struktur, sich widersprechen. Scharfsinnig hat er nachgewiesen zum Beispiel, wie es unmöglich ist, wenn man die Gleichheit im sozialen Leben allein. durchführt, daß dadurch die in jedem Menschenwesen notwendig begründete Freiheit auch zur Geltung komme. Widersprechend fand er diese drei Ideale. Merkwürdig, man kann gar nicht anders, als denen zustimmen, die diesen Widerspruch finden, und man kann gar nicht anders als aus einem allgemein menschlichen Empfinden mit jedem dieser drei Ideale seine Sympathie haben! Warum dieses?

Nun, eben aus dem Grunde, weil man den rechten Sinn dieser drei Ideale erst einsieht, wenn man erkennt die notwendige Dreigliederung des sozialen Organismus. Die drei Glieder sollen nicht in einer abstrakten, theoretischen Reichstags- oder sonstigen Einheit zusammengefügt und zentralisiert sein, sie sollen lebendige Wirklichkeit sein und durch ihr lebendiges Wirken nebeneinander erst die Einheit zusammenbringen. Wenn diese drei Glieder selbständig sind, so widersprechen sie sich in einer gewissen Weise, wie das Stoffwechselsystem dem Kopfsystem und dem rhythmischen System widerspricht. Aber im Leben wirkt das Widerspruchsvolle gerade zu der Einheit zusammen. Daher wird man zu einem Erfassen des Lebens des sozialen Organismus kommen, wenn man imstande ist, die wirklichkeitsgemäße Gestaltung dieses sozialen Organismus zu durchschauen. Dann wird man erkennen, daß im Zusammenwirken der Menschen im Wirtschaftsleben, wo sie untereinander zu regeln haben auf dem besonderen, eigenen Gebiete dieses erste soziale Glied, daß auf diesem Gebiete in dem, was Menschen tun, wirken muß die Brüderlichkeit. In dem zweiten Gliede, in dem System des öffentlichen Rechtes, wo man es zu tun hat mit dem Verhältnis des Menschen zum Menschen, nur insoferne man überhaupt Mensch ist, hat man es zu tun mit der Verwirklichung der Idee der Gleichheit.

Und auf dem geistigen Gebiete, das wiederum in relativer Selbständigkeit dastehen muß im sozialen Organismus, hat man es zu tun mit der Idee der Freiheit. Da gewinnen plötzlich diese drei goldenen Ideale erst ihren Wirklichkeitswert, wenn man weiß: sie dürfen nicht in einem chaotisch Durcheinandergewürfelten sich realisieren, sondern in dem, was ein nach wirklichkeitsgemäßen Gesetzen orientierter sozialer dreigliedriger Organismus ist, in welchem jedes einzelne der drei Glieder für sich das ihm zugehörige Ideal von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklichen kann.

Ich kann heute die Struktur des sozialen Organismus nur skizzenhaft andeuten. In den nächsten Vorträgen werde ich dieses alles im einzelnen begründen und beweisen. Was ich aber zu dem Gesagten noch hinzuzufügen habe, ist, daß als drittes Glied des gesunden sozialen Organismus wirken muß alles dasjenige, was sich in ihn hineinstellt aus der menschlichen Individualität heraus, was auf Freiheit basiert sein muß, was auf der körperlichen und geistigen Begabung des einzelnen Menschen beruht. Hier berührt man wiederum ein Gebiet, welches allerdings, richtig charakterisiert, manchem Gegenwartsmenschen noch ein leises Schaudern verursacht. Das, was umschlossen werden muß von diesem dritten Gebiete des gesunden sozialen Organismus, das ist alles dasjenige, was sich auf das religiöse Leben des Menschen bezieht, was sich auf Schule und Erziehung im weitesten Sinne bezieht, was sich auch sonst auf das geistige Leben, auf den Betrieb von Kunst und so weiter bezieht. Und, heute will ich es nur erwähnen, in den nächsten Vorträgen werde ich auch das ausführlich begründen: Alles das gehört in dieses dritte Gebiet, was sich bezieht nun nicht auf das öffentliche Recht, das in das zweite Gebiet gehört, sondern was sich bezieht auf das private Recht und auf das Strafrecht. Ich habe manchen gefunden, dem ich vortragen konnte diese Dreigliederung des sozialen Organismus und er hat mancherlei verstanden - das konnte er nun gar nicht verstehen, daß das öffentliche Recht, das Recht, das sich auf die Sicherheit und Gleichheit aller Menschen bezieht, abgetrennt werden muß von dem, was Recht ist gegenüber einer Rechtsverletzung, oder gegenüber dem, was eben private Verhältnisse der Menschen sind, daß das voneinander abgetrennt werden muß, und daß Privatrecht und Strafrecht dem dritten, dem geistigen Gliede des sozialen Organismus zugezählt werden muß.

Nun, das moderne Leben hat sich leider bis jetzt ganz und gar abgekehrt von einer Berücksichtigung dieser drei Glieder des sozialen Organismus. So wie der Wirtschaftskörper mit seinen Interessen eingedrungen ist in das staatliche, in das eigentlich politische Leben, seine Interessen hineingebracht hat in die Vertretungskörper des politischen Lebens, dadurch getrübt hat die Möglichkeit, wirklich dieses zweite Glied des sozialen Organismus so zu gestalten, daß sich die Gleichheit aller Menschen darinnen verwirklicht, so hat auch aufgesogen das Wirtschafts- und das staatliche Leben das, was sich nur in freier Gestaltung entwickeln kann. Aus einem gewissen Instinkt heraus, allerdings aus einem verkehrten Instinkt heraus hat die moderne Sozialdemokratie das religiöse Leben abzutrennen versucht von dem öffentlichen Staatsleben: «Religion ist Privatsache»; aber leider nicht aus einer besonderen Achtung vor der Religion, aus einer besonderen Schätzung desjenigen, was mit dem religiösen Leben dem Menschen gegeben ist, sondern gerade aus einer Mißachtung, aus einer Gleichgültigkeit gegenüber dem religiösen Leben, was mit den Dingen zusammenhängt, die ich im vorigen Vortrage, vorgestern, ausgeführt habe. Aber richtig ist an dieser Forderung die Abtrennung des religiösen Lebens von den beiden anderen Gebieten, von der Gestaltung des Wirtschaftslebens und von der Gestaltung des politischen Lebens. Aber ebenso notwendig ist die Abtrennung des gesamten niederen und höheren Erziehungswesens, wie des geistigen Lebens überhaupt, von den beiden anderen Gliedern. Und erst dann wird ein wirklich gesundes Leben des sozialen Organismus eintreten, wenn innerhalb derjenigen Körperschaften, die zu wachen haben über die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetze, wenn in dieser Körperschaft nur darauf gesehen wird, daß aus den freien menschlichen Individualitäten heraus Schule, religiöses und sonstiges geistiges Leben sich entwickeln kann, wenn darüber gewacht wird, daß dieses Leben in Freiheit sich entwickelt, wenn nicht der Anspruch darauf gemacht wird, von sich aus zu regeln, von der Wirtschaft oder vom Staate aus zu regeln das Schul-, das Erziehungs-, das geistige Leben.