Sozialer als Umkehrung des menschlichen Organismus

Quelle: GA 328, S. 025-030, 1. Ausgabe 1977, 05.02.1919, Zürich

Ich darf vielleicht, um mich über das zu verständigen, was ich gerade als den Nerv einer umfassenden, allseitigen Beobachtung über die soziale Frage erkannt zu haben glaube, von einem Vergleich ausgehen. Aber ich bitte zu berücksichtigen, daß ich nichts anderes meine damit als einen Vergleich, als etwas, was unterstützen kann das menschliche Verständnis, um es gerade in diejenige Richtung zu bringen, welche notwendig ist, um sich Vorstellungen zu machen über die Gesundung des sozialen Organismus. Wer in dieser Hinsicht betrachten muß den kompliziertesten natürlichen Organismus, den menschlichen Organismus, der muß seine Aufmerksamkeit darauf richten, daß die ganze Wesenheit dieses menschlichen Organismus darauf beruht, daß er drei nebeneinander wirksame Systeme in einem inneren Gefüge aufzuweisen hat. Diese drei nebeneinander wirksamen Systeme kann man etwa in folgender Weise kennzeichnen.

Man kann sagen: Im menschlichen natürlichen Organismus wirkt dasjenige System, welches in sich schließt das Nerven- und Sinnesleben. Man könnte es auch nach dem wichtigsten Gliede des Organismus, wo das Nerven- und Sinnesleben gewissermaßen zentralisiert ist, den Kopforganismus nennen.

Als zweites Glied der menschlichen Organisation hat man anzuerkennen, wenn man ein wirkliches Verständnis erwerben will für diese menschliche Organisation, was ich nennen möchte das rhythmische System, das zusammenhängt mit Atmung, Blutzirkulation, mit alldem, was sich ausdrückt in rhythmischen Vorgängen des menschlichen Organismus.

Als drittes System hat man dann anzuerkennen alles dasjenige, was als Organe und Tätigkeiten zusammenhängt mit dem eigentlichen Stoffwechsel. In diesen drei Systemen ist enthalten alles dasjenige, was in gesunder Art unterhält, wenn es aufeinander organisiert ist, den Gesamtvorgang, der sich abspielt im menschlichen Organismus.

Ich habe versucht, in vollem Einklange mit alldem, was naturwissenschaftliche Forschung schon heute sagen kann, diese Dreigliederung des menschlichen natürlichen Organismus wenigstens zunächst skizzenweise in meinem Buche «Von Seelenrätseln» zu charakterisieren. Ich bin mir klar darüber, daß alles das, was Biologie, Physiologie, was Naturwissenschaft mit Bezug auf den Menschen in der allernächsten Zeit hervorbringen werden, gerade hinführt zu einer solchen Betrachtung des menschlichen Organismus, welche durchschaut, wie diese drei Glieder - Kopfsystem, Zirkulations- oder Brustsystem und Stoffwechselsystem - gerade dadurch den Gesamtvorgang im menschlichen Organismus aufrechterhalten, daß diese Glieder in einer gewissen Selbständigkeit wirken, daß nicht eine absolute Zentralisation des menschlichen Organismus vorliegt, daß auch jedes dieser Systeme ein besonderes, für sich bestehendes Verhältnis zur Außenwelt hat: das Kopfsystem durch die Sinne, das Zirkulationssystem oder rhythmische System durch die Atmung, und das Stoffwechselsystem durch die Ernährungsorgane.

Wir sind mit Bezug auf naturwissenschaftliche Methoden noch nicht ganz so weit, um das, was ich hier angedeutet habe, was aus geisteswissenschaftlichen Untergründen heraus für die Naturwissenschaft von mir zu verwerten gesucht worden ist, um das wirklich schon innerhalb der naturwissenschaftlichen Kreise selbst zur allgemeinen Anerkennung zu bringen, wie das wünschenswert für den Erkenntnisfortschritt erscheinen kann.

Das heißt aber: Unsere Denkgewohnheiten, unsere ganze Art, die Welt vorzustellen, ist noch nicht vollständig angemessen dem, was zum Beispiel im menschlichen Organismus sich als die innere Wesenheit des Naturwirkens darstellt. Man könnte in einem gewissen Sinne sagen: Nun ja, die Naturwissenschaft kann warten, sie wird nach und nach ihren Idealen zueilen, sie wird schon dahin kommen, solch eine Betrachtungsweise als die ihrige anzuerkennen. Aber mit Bezug auf die Betrachtung und namentlich das Wirken des sozialen Organismus, kann man nicht warten. Da muß nicht nur bei irgendwelch en Fachmännern, sondern da muß in jeder Menschenseele - denn jede Menschenseele nimmt teil an der Wirksamkeit des sozialen Organismus - wenigstens eine instinktive Erkenntnis von dem vorhanden sein, was diesem sozialen Organismus notwendig ist. Ein gesundes Denken und Empfinden, ein gesundes Wollen und Begehren mit Bezug auf die Gestaltung des sozialen Organismus kann sich nur entwickeln, wenn man, sei es auch mehr oder weniger bloß instinktiv, sich klar darüber ist, daß dieser soziale Organismus, soll er gesund sein, ebenso dreigliedrig sein muß wie der natürliche Organismus.

Da bin ich an dem Punkte, wo ich mich besonders verwahren muß dagegen, mißverstanden zu werden. Es ist ja, seit Schäffle sein Buch geschrieben hat über den Bau des sozialen Organismus, immer wieder und wiederum versucht worden, Analogien festzustellen zwischen der Organisation eines Naturwesens, sagen wir der Organisation des Menschen und der menschlichen Gesellschaft als solcher. Was hat man da alles versucht festzustellen, was im sozialen Organismus die Zelle ist, was Zellengefüge sind, was Gewebe sind und so weiter! Noch vor kurzem ist ja ein Buch erschienen von Meray, «Weltmutation», in dem gewisse naturwissenschaftliche Tatsachen und naturwissenschaftliche Gesetze einfach übertragen werden auf, wie man meint, den menschlichen Gesellschaftsorganismus. Mit all diesen Dingen, mit all diesen Analogiespielereien hat dasjenige, was hier gemeint ist, absolut nichts zu tun.

Und derjenige, welcher nach Abschluß dieser Vorträge sagen wird: Aha, hier hat man es auch wiederum mit einem solchen Analogiespiel zwischen dem natürlichen Organismus und dem gesellschaftlichen Organismus zu tun -, der wird dadurch nur beweisen, daß er nicht in den eigentlichen Geist des hier Gemeinten eingedrungen ist. Denn nicht das will ich: irgendeine für naturwissenschaftliche Tatsachen passende Wahrheit herüberverpflanzen auf den sozialen Organismus, sondern das will ich, daß das menschliche Denken, das menschliche Empfinden so lernt an der Betrachtung des naturgemäßen Organismus, daß es seine Methode, seine Empfindungsweise dann auch anwenden kann auf den sozialen Organismus. Wenn man einfach das, was man glaubt gelernt zu haben am natürlichen Organismus, überträgt auf den sozialen Organismus, wie Schäffle es getan hat, wie es andere getan haben, wie es wiederum in dem Buch über «Weltmutation» gemacht wird, so zeigt man damit nur, daß man nicht sich die Fähigkeiten aneignen will, den sozialen Organismus ebenso selbständig, ebenso für sich zu betrachten, nach seinen eigenen Gesetzen zu forschen, wie man dies tut für den natürlichen Organismus. Also nur um mich verständlich zu machen, habe ich den Vergleich gezogen mit dem natürlichen Organismus. Denn in dem Augenblicke, wo man wirklich so vorgeht, daß man objektiv, wie der Naturforscher, sich gegenüberstellt dem natürlichen Organismus, so sich dem sozialen Organismus in seiner Selbständigkeit gegenüberstellt, um dessen eigene Gesetze zu erkennen, in diesem Augenblicke hört gegenüber dem Ernst der Betrachtung jedes Analogiespiel auf.

Ich will gleich bemerken, wie dieses Analogiespiel aufhören muß. Die Betrachtung des sozialen Organismus - allerdings hat man es da mit einem Werdenden, mit einem eigentlich erst Entstehenden zu tun -, insoferne er gesund sein soll, führt ebenfalls zu drei Gliedern dieses sozialen Organismus; aber man erkennt beides selbständig für sich, wenn man objektiv die Dinge nehmen kann. Man erkennt auf der einen Seite die drei Glieder des menschlichen Organismus, auf der anderen Seite objektiv für sich die drei Glieder des sozialen Organismus. Würde man Analogien suchen, dann würde man vielleicht in der folgenden Weise verfahren. Man würde sagen: Das menschliche Kopf- oder Nerven-Sinnessystem hängt zusammen mit dem menschlichen Geistesleben, mit den geistigen Fähigkeiten; das Zirkulationssystem regelt den Zusammenhang dieses geistigen Systems mit dem gröbsten System, mit dem materiellen System, mit dem Stoffwechselsystem.

Das Stoffwechselsystem wird dann nach gewissen Empfindungen, die man nun schon einmal aus gewissen Untergründen heraus hat, als das gröbste System des menschlichen Organismus angesehen. Was wäre nun, wenn man ein Analogiespiel treiben würde, das Nächstliegende? Das Nächstliegende wäre, daß man sagte: Nun ja, auch der soziale Organismus zerfällt in drei Glieder. In ihm wickelt sich ab das menschliche Geistesleben. Das wäre ein Glied. In ihm wickelt sich ab das eigentliche politische Leben - wir werden gleich nachher von dieser Gliederung sprechen -, in ihm wickelt sich aber auch ab das Wirtschaftsleben. Nun könnte man, wenn man Analogiespiel treiben wollte, glauben, dasjenige, was als geistiges Leben, als geistige Kultur im sozialen Organismus gewissen Gesetzen unterworfen ist, das hätte solche Gesetze, die sich vergleichen ließen mit den Gesetzen des geistigen Systems, des Nerven- und Sinnessystems. Dasjenige System, das im Menschen als das gröbste, als das eigentlich Stoffliche angesehen wird, eben das Stoffwechselsystem, das würde ein bloßes Analogiespiel wahrscheinlich vergleichen mit dem, was man nennt das grobe, materielle Wirtschaftsleben. Derjenige, der die Dinge nun für sich betrachten kann, der weit von sich weist ein bloßes Analogiespiel, der weiß, daß das, was wirklich ist, gerade umgekehrt ist gegenüber dem, was durch ein bloßes Analogiespiel herauskommt. Für den sozialen Organismus liegen gegenüber der wirtschaftlichen Produktion und Konsumtion, gegenüber der wirtschaftlichen Warenzirkulation so die Gesetze dem Leben zugrunde, wie im menschlichen natürlichen Organismus Gesetze zugrunde liegen seinem Nerven- und Sinnesleben, gerade seinem Geistsystem. Allerdings, dasjenige, was das Leben des öffentlichen Rechtes ist, das eigentliche politische Leben, das Leben, welches man oftmals viel zu umfassend denkt, das man bezeichnen kann als das eigentliche Staatsleben, das läßt sich nun vergleichen mit dem zwischen den zwei natürlichen Systemen, dem Stoffwechselsystem und dem Nerven-Sinnessystem liegenden rhythmischen System, dem regulierenden System, dem Atmungs- und dem Herzsystem. Aber nur dadurch läßt es sich vergleichen, daß eben, wie im menschlichen Organismus zwischen dem Stoffwechsel- und dem Nervensystem in der Mitte das Zirkulations- oder rhythmische System liegt, so liegt das System des öffentlichen Rechtes zwischen dem Wirtschaftssystem und zwischen dem eigentlichen Leben der Geisteskultur. Und dieses Leben der Geisteskultur, dieses Leben des Geistes im sozialen Organismus, das hat nun nicht Gesetze, die sich analog denken lassen den Gesetzen der menschlichen Begabungen, den Gesetzen des menschlichen Sinnes- und Nervenlebens, sondern das, was geistiges Leben im sozialen Organismus ist, das hat Gesetze, die sich nur vergleichen lassen mit den Gesetzen des menschlichen gröbsten Systems, des Stoffwechselsystems.

Das ist es, wozu eine objektive Betrachtung des sozialen Organismus führt. Das muß aber auch vorausgesetzt werden, damit kein Mißverständnis mit Bezug auf diese Punkte eintritt, damit man nicht glaube, es werde einfach Physiologisches oder Biologisches auf den sozialen Organismus übertragen. Der soziale Organismus muß aber durchaus selbständig für sich betrachtet werden, wenn Ersprießliches zu seinem Gedeihen, zu seiner Gesundung geschehen soll.