Kind - Gleichheit, Erwachsene - Brüderlichkeit, Greis - Freiheit

Quelle: GA 187, S. 012-052, 3. Ausgabe 1979, 22.12.1918, Basel

Sie lenkt uns nun hin, die neue christliche Offenbarung, diesen menschlichen Lebenslauf so zu betrachten, wie ihn, man darf wohl sagen, der Christus im 20. Jahrhundert von den Menschen betrachtet haben will. Wir gedenken heute, wo wir uns versenken wollen in den Weihnachtsgedanken, eines dem Christus Jesus in den Mund gelegten Ausspruches, welcher uns so recht hinweisen kann zu dem Weihnachtsgedanken. Der Ausspruch heißt: « Und so ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnet ihr nicht eintreten in die Reiche der Himmel.»

«Und so ihr nicht werdet wie die Kindlein ... » es ist wahrhaft nicht eine Aufforderung dazu, allen Mysteriencharakter abzustreifen von dem Weihnachtsgedanken, und den Weihnachtsgedanken herunterzuziehen in die Trivialität des lieben Jesulein, wie viele Volks- und ähnliche Lieder, aber weniger Volks- als Kunstlieder, im Laufe der materialistischen Entwickelung des Christentums getan haben. Gerade dieser Ausspruch: «So ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnet ihr nicht eintreten in die Reiche der Himmel», er läßt uns aufschauen zu gewaltigen Impulsen, die durch die Menschheitsentwickelung wallen. Und in unserer heutigen Zeit, wo durch die Weltereignisse wahrhaftig nicht ein Anlaß gegeben ist, in triviale Weihnachtsgedanken zu verfallen, wo durch das menschliche Herz so Schmerzvolles zieht, wo dieses menschliche Herz zurückschauen muß auf Millionen von Menschen, die den Tod gefunden haben in den letzten Jahren, hinschauen muß auf unzählige Menschen, die hungern, in dieser Zeit geziemt es sich wahrlich nicht anders, als hinzuschauen auf die mächtigen, den Menschen treibenden weltgeschichtlichen Gedanken, auf die man hingelenkt werden kann durch das Wort: « So ihr nicht werdet wie die Kindlein ... » und das man ergänzen kann durch das andere: «Und so ihr nicht euer Leben verbringet in dem Lichte dieses Gedankens, so könnet ihr nicht eintreten in die Reiche der Himmel.»

Indem der Mensch als Kind in die Welt eintritt, kommt er unmittelbar aus der geistigen Welt heraus. Denn das, was sich im physischen Leben vollzieht, die Erzeugung und das Wachstum seines physischen Leibes, das ist die Umkleidung desjenigen Ereignisses, das nicht anders bezeichnet werden kann als so, daß man sagt: Des Menschen tiefste Wesenheit geht heraus aus der geistigen Welt. Der Mensch wird aus dem Geiste heraus in den Leib hineingeboren. Und wenn der Rosenkreuzer sagt: Ex deo nascimur - so meint er den Menschen, insofern er in der physischen Welt auftritt. Denn dasjenige, was den Menschen zunächst umhüllt, was ihn zum physischen Ganzen hier auf dem Erdenrund macht, das ist dasjenige, was mit dem Worte Ex deo nascimur getroffen wird. Sieht man auf das Zentrum des Menschen, auf das eigentliche innere Mittelpunktswesen, dann muß man sagen: Der Mensch wandert aus dem Geiste heraus in diese physische Welt herein. - Durch dasjenige, was sich in der physischen Welt abspielt, dem er zugeschaut hat aus den geistigen Landen vor seiner Empfängnis oder seiner Geburt, wird er umkleidet mit seinem physischen Leibe, um in diesem physischen Leibe Dinge zu erleben, die eben nur im physischen Leibe erlebt werden können. Aber der Mensch kommt in seinem Mittelpunktswesen aus der geistigen Welt heraus. Und er ist so, daß er in den ersten Jahren seines physischen Daseins - für denjenigen, der die Dinge anschauen will so, wie sie sind in der Welt, der nicht geblendet ist durch Illusionen des Materialismus -, er ist so, dieser Mensch, daß er ankündigt noch in den ersten Jahren, wie er aus dem Geiste heraus gekommen ist. Dasjenige, was man am Kinde erlebt, stellt sich für den wirklich Einsichtigen so dar, daß man in ihm empfinden kann die Nachwirkung der Erlebnisse in der geistigen Welt.

Auf dieses Geheimnis wollen solche Erzählungen hinweisen wie diejenige, die anknüpft an den Namen des Nikolaus von der Flüe. Eine Trivialanschauung, die stark beeinflußt ist von materialistischer Denkungsart, die spricht in ihrer Einfalt, daß der Mensch nach und nach im Leben sein Ich entwickelt von der Geburt bis zum Tode hin, daß dieses Ich immer mächtiger und immer stärker wird, immer deutlicher hervortritt. Es ist eine einfältige Denkungsart. Denn sieht man hin auf das wahre Ich des Menschen, auf dasjenige, was zur physischen Umkleidung mit der Geburt des Menschen aus der geistigen Welt heraus kommt, dann spricht man über diese ganze physische Entwickelung des Menschen anders. Dann weiß man nämlich, daß das wahre Ich des Menschen nach und nach, indem er physisch heranwächst in dem physischen Leib, aus dem Leib gerade herausverschwindet, daß es immer weniger und weniger deutlich wird, und daß dasjenige, was sich entwickelt hier in der physischen Welt zwischen Geburt und Tod, nur ein Spiegelbild geistiger Ereignisse ist, ein totes Spiegelbild eines höheren Lebens. Das ist die richtige Ausdrucksweise, daß man sagt: In den Leib hinein verschwindet nach und nach die ganze Fülle des menschlichen Wesens; sie wird immer unsichtbarer und unsichtbarer. Der Mensch lebt sein physisches Leben hier auf der Erde, indem er sich nach und nach an den Leib verliert, um sich im Tode im Geiste wiederzufinden. - So spricht derjenige, der die Verhältnisse kennt.

Derjenige aber, der die Verhältnisse nicht kennt, spricht so, daß er sagt: Das Kind ist unvollkommen, und nach und nach entwickelt sich das Ich zu immer größerer und größerer Vollkommenheit, es wächst heraus aus den unbestimmten Untergründen des menschlichen Daseins. - Die Erkenntnis desjenigen, was der Geistessucher schaut, muß anders sprechen gerade auf diesem Gebiete, als da spricht das in äußere Illusionen verstrickte sinnliche Bewußtsein unserer heute noch immer materialistisch empfindenden Zeit.

Und so tritt dann der Mensch als Geisteswesen in die Welt ein. Sein Leibeswesen ist, indem er Kind ist, noch unbestimmt; es hat noch wenig in Anspruch genommen das Geistige, das wie hereinschläft in das physische Dasein, das aber nur deshalb uns so wenig inhaltsvoll erscheint, weil wir es ebensowenig im gewöhnlichen physischen Leben wahrnehmen, wie wir das schlafende Ich und den schlafenden Astralleib wahrnehmen, wenn sie vom physischen und Ätherleib getrennt sind. Deshalb aber ist ein Wesen nicht unvollkommener, weil wir es nicht sehen. Das muß der Mensch mit seinem physischen Leibe erkaufen, daß er sich immer mehr und mehr eingräbt in den physischen Leib, um durch dieses Eingraben Fähigkeiten zu bekommen, die nur auf diese Weise erlangt werden können, daß sich das Geist-Seelenwesen des Menschen eine Zeitlang an das physische Dasein im physischen Leibe verliert. Daß wir uns an diesen unseren Geistursprung immerdar erinnern, daß wir erstarken in dem Gedanken: Wir sind aus dem Geiste herausgewandert in die physische Welt -, dazu steht der Weihnachtsgedanke wie eine mächtige Lichtsäule da innerhalb der christlichen Weltempfindung. Dieser Gedanke als Weihnachtsgedanke muß immer mehr und mehr erkraftet werden in der zukünftigen geistigen Entwickelung der Menschheit. Dann wird dieser Weihnachtsgedanke für diese Menschheit wieder stark werden, dann werden die Menschen wiederum dem Weihnachtsfeste so entgegenleben können, daß sie Kraft für das physische Dasein schöpfen aus diesem Weihnachtsgedanken, der sie in rechtem Sinne an ihren Geistesursprung erinnern kann. So kraftvoll wie dieser Weihnachtsgedanke dann empfunden werden wird, so wird er heute noch wenig von den Menschen gefühlt; denn es ist eine merkwürdige, aber durchaus in den Gesetzen des geistigen Daseins begründete Tatsache, daß dasjenige, was in der Welt Menschen vorwärtsbringend, Menschen fördernd auftritt, nicht gleich in seiner letzten Gestalt auftritt, daß es gewissermaßen zuerst tumultuarisch, wie von unrechtmäßigen Geistern der Weltentwickelung vorweggenommen, vor den Menschen tritt. Wir verstehen die geschichtliche Entwickelung der Menschheit nur in rechtem Sinne, wenn wir wissen, daß Wahrheiten nicht nur so genommen werden müssen, wie sie manchmal in die Weltgeschichte eintreten, sondern daß bei Wahrheiten hingeschaut werden muß auf die rechte Zeit, in der sie im rechten Lichte in die Menschheitsentwickelung eintreten können.

Unter den mancherlei Gedanken, die in die neuere Menschheitsentwickelung - ganz gewiß angeregt durch den Christus- Impuls, aber in einer zunächst verfrühten Gestalt - hereingetreten sind, ist der tief christliche, aber einer immer weitergehenden Vertiefung fähige Gedanke der Gleichheit der Menschheit vor der Welt und vor Gott, der Gleichheit aller Menschen. Aber man darf diesen Gedanken nicht in solcher Allgemeinheit hinstellen vor das Menschengemüt, wie ihn, als er zuerst tumultuarisch in die Menschheitsentwickelung eingetreten ist, die Französische Revolution hingestellt hat. Man muß sich bewußt sein, daß dieses Menschenleben von der Geburt bis zum Tode in Entwickelung ist, und daß die Hauptimpulse auf dieses Menschenleben verteilt sind. Fassen wir den Menschen ins geistige Auge, wie er in das sinnliche Dasein eintritt: er tritt voll ein in dieses sinnliche Dasein, durchimpulsiert von dem Impuls der Gleichheit des Menschenwesens aller Menschen. Und man empfindet das kindliche Dasein am allerintensivsten, wenn man hinblickt auf das Kind, das durchdrungen ist in seiner Wesenheit von dem Gedanken der Gleichheit aller Menschen. Noch nichts, was die Menschen in Ungleichheit bringt, noch nichts, was die Menschen so organisiert, daß sie sich als verschieden von andern Menschen fühlen, noch nichts von alldem tritt im kindlichen Dasein zunächst auf. Alles das wird dem Menschen erst gegeben im Laufe seines physischen Menschenlebens. Ungleichheit erzeugt das physische Dasein; aus dem Geiste heraus wandert der Mensch gleich vor der Welt und vor Gott und vor andern Menschen. So verkündet das Mysterium des Kindes. Und an dieses Mysterium des Kindes schließt sich an der Weihnachtsgedanke, der in neuer christlicher Offenbarung seine Vertiefung finden wird. Denn diese neue christliche Offenbarung wird rechnen mit der neuen Trinität: dem Menschen, wie er die Menschheit unmittelbar repräsentiert, dem Ahrimanischen und dem Luziferischen. Und indem man erkennen wird, wie der Mensch hineingestellt ist in das Weltendasein als in den Gleichgewichtszustand zwischen dem Ahrimanischen und dem Luziferischen, wird man verstehen, was dieser Mensch auch im äußeren physischen Dasein in Wirklichkeit ist.

Vor allen Dingen muß Verständnis fallen, christliches Verständnis fallen auf eine gewisse Seite dieses menschlichen Lebens. Laut wird es verkünden der christliche Gedanke in der Zukunft, was sich bei einzelnen Geistern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ich möchte sagen, in stammelnder Erkenntnis, wenn auch durchaus deutlich, schon angekündigt hat. Wenn man erfaßt, was eine Tatsache ist, daß das Kind mit Gleichheitsgedanken in die Welt hereintritt, daß aber später im Menschen, wie heraus aus dem Geborenwerden, Ungleichheitskräfte sich entwickeln, die scheinbar nicht von dieser Erde sind, so tritt damit gerade gegenüber dem Gleichheitsgedanken ein neues gewaltiges Mysterium an den Menschen heran. Dieses Mysterium zu durchschauen und durch das Durchschauen dieses Mysteriums eine richtige Anschauung über den Menschen zu erlangen, das wird zu wichtigen und notwendigen Bedürfnissen in der zukünftigen menschlichen Seelenentwickelung von der Gegenwart ab gehören. Die Frage steht bange vor dem Menschen: Ja, die Menschen werden verschieden, wenn sie es auch noch nicht in der Kindheit sind, durch etwas, was scheinbar mit ihnen geboren ist, was im Blute liegt, durch ihre verschiedenen Begabungen und Fähigkeiten.

Die Frage der Begabungen und Fähigkeiten, welche so viele Ungleichheiten unter den Menschen bewirken, sie tritt an den Menschen heran im Zusammenhang mit dem Weihnachtsgedanken. Und das Weihnachtsfest der Zukunft, es wird in ernster Weise den Menschen immerzu gemahnen an den Ursprung seiner ihn über die Erde hin differenzierenden Begabungen, Fähigkeiten, Talente, vielleicht sogar genialen Fähigkeiten. Er wird nach diesem Ursprung fragen müssen.

Und das richtige Gleichgewicht innerhalb des physischen Daseins wird er nur erlangen, wenn er in der rechten Art auf den Ursprung seiner ihn von den andern Menschen unterscheidenden Fähigkeiten hinweisen kann. Das Weihnachtslicht oder die Weihnachtslichter müssen der sich entwickelnden Menschheit Aufschluß geben über diese Fähigkeiten, müssen die große Frage lösen: Besteht Ungerechtigkeit innerhalb der Weltenordnung für den einzelnen persönlichen Menschen zwischen Geburt und Tod? Wie ist es mit den Fähigkeiten, mit der Begabung?

Nun, manches wird anders werden in der menschlichen Anschauung, wenn die Menschen mit dem neuen christlichen Empfinden durchdrungen sein werden. Verstehen wird man vor allen Dingen, warum die alttestamentliche Geheimanschauung eine besondere Ansicht hatte über das Prophetentum. Was waren sie im Alten Testament, die auftretenden Propheten? Sie waren von Jahve geheiligte Persönlichkeiten; sie waren diejenigen Persönlichkeiten, die in rechtmäßiger Weise besondere Geistesgaben, die über die Menge hervorragten, gebrauchen durften. Jahve mußte erst heiligen diejenigen Fähigkeiten, welche dem Menschen wie durch das Blut eingeboren sind. Und wir wissen, Jahve wirkt auf den Menschen vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Wir wissen, Jahve wirkt nicht herein in das bewußte Leben. Jeder wirkliche Bekenner des Alten Testamentes sagte sich in seinem Gemüte: Dasjenige, was die Menschen unterscheidet hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Begabungen, was sich in den Prophetennaturen sogar zu genialer Höhe erhebt, es ist zwar mit dem Menschen geboren, aber der Mensch wendet es nicht zum Guten an, wenn er nicht einschlafend untersinken kann in jene Welt, in der Jahve seine Seelenimpulse lenkt und dasjenige, was physische Begabung, an dem Leibe hängende Begabungen sind, von der geistigen Welt aus umwandelt. - Auf ein tiefstes Geheimnis des alttestamentlichen Anschauens weisen wir dabei hin. Die alttestamentliche Anschauung, auch die Anschauung über das Prophetentum, sie muß dahingehen. Neue Anschauungen müssen zum Heile der Menschheit in die weltgeschichtliche Entwickelung eintreten. Dasjenige, wovon die alten Hebräer glaubten, daß es geheiligt werde durch Jahve im bewußtlosen Schlafzustand, das muß in der neueren Zeit der Mensch fähig werden zu heiligen, während er wach ist, bei vollem Bewußtsein.

Das aber kann er nur, wenn er weiß, daß auf der einen Seite alles dasjenige, was natürliche Begabungen, Fähigkeiten, Talente, Genies vielleicht sind, luziferische Gaben sind, die luziferisch in der Welt wirken, solange sie nicht geheiligt und durchdrungen werden von alldem, was als Christus-Impuls in die Welt eintreten kann. Ein ungeheuer bedeutungsvolles Mysterium der neueren Menschheitsentwickelung berührt man, wenn man den Keim des neuen Weihnachtsgedankens erfaßt und hinweist darauf, daß der Christus verstanden und empfunden werden muß von den Menschen so, daß die Menschen nun als neutestamentliche Menschen vor dem Christus stehen und sagen: Ich habe zu der Gleichheitsprätention, zu der Gleichheitsaspiration des Kindes hinzubekommen die verschiedenen Fähigkeiten und Begabungen und Talente. Sie führen aber auf die Dauer nur zum Guten, zum Heile des Menschen, wenn diese Begabungen, diese Talente, diese Fähigkeiten gestellt werden in den Dienst des Christus Jesus, wenn der Mensch anstrebt, sein ganzes Wesen zu durchchristen, damit Luzifer entrissen werden die menschlichen Begabungen, Talente, Genies.

Das durchchristete Gemüt entreißt Luzifer dasjenige, was sonst luziferisch im physischen Dasein des Menschen wirkt. Das muß als starker Gedanke hindurchgehen durch die künftige Entwickelung der menschlichen Seele. Das ist der neue Weihnachtsgedanke, die neue Verkündigung von der Wirksamkeit des Christus in unserer Seele zur Umwandlung des Luziferischen, das in uns nicht hineinkommt, insofern wir aus dem Geiste heraus wandern, sondern das wir in uns dadurch finden, daß wir mit einem blutdurchdrungenen physischen Leib umkleidet werden, der uns aus der Vererbung heraus die Fähigkeiten gibt. Innerhalb der luziferischen Strömung, innerhalb desjenigen, was in der physischen Vererbungsströmung wirkt, treten diese Eigenschaften auf, aber gewonnen, erobert wollen sie sein während des physischen Lebens von dem, was der Mensch nun nicht durch Jahve-Inspirationen im Schlafe, sondern in vollem Bewußtsein, durch Ausnützung seiner Erlebnisse an dem Christus-Impuls empfinden kann.

Wende dich hin, o Christ, zu dem Weihnachtsgedanken - so redet das neue Christentum - und bringe dar auf dem Altare, der zu Weihnacht aufgerichtet wird, alles dasjenige, was du an Menschendifferenzierung empfängst aus dem Blute heraus, und heilige deine Fähigkeiten, heilige deine Begabungen, heilige selbst dein Genie, indem du es beleuchtet siehst von dem Lichte, das von dem Weihnachtsbaum ausgeht.

In neuen Worten muß sprechen die neue Geistverkündung, und wir müssen nicht stumpf und gehörlos sein gegenüber dem, was in unserer von Ernst durchdrungenen Zeit an neuen Offenbarungen des Geistes zu uns spricht. Dann, wenn wir so empfinden, dann leben wir auch mit jener Kraft, mit der heute der Mensch leben soll, um

die großen Aufgaben zu lösen, die der Menschheit gerade in unserem Zeitalter gestellt sein werden. Empfunden werden muß die ganze Schwere des Weihnachtsgedankens: In unserem Zeitalter muß in das volle wache Bewußtsein hereintreten das, was der Christus zu den Menschen sagen wollte, als er die Worte sprach: « So ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnet ihr nicht eintreten in die Reiche der Himmel.» Der Gleichheitsgedanke, den das Kind offenbart, wenn wir es in richtigem Sinne anschauen, der wird nicht Lügen gestraft durch diese Worte; denn das Kind, an dessen Geburt wir uns in der Weihnachtsnacht erinnern, verkündet - den Menschen in ihrer Entwickelung durch die Weltgeschichte immer neue Gedanken offenbarend - klar und deutlich, daß in das Licht des Christus, der durchseelt hat dieses Kind, gerückt werden muß dasjenige, was wir an uns differenzierenden Begabungen tragen, daß auf dem Altare dieses Kindes dargebracht werden muß dasjenige, was diese verschiedenen Begabungen aus uns Menschen machen. [...]

Zwei Gesichtspunkte halten wir also auseinander. Den einen Gesichtspunkt: was zu tun ist mit den durch die Blutsverhältnisse, durch die Geburtsverhältnisse auftretenden Differenzierungen der Menschheit. Und den andern: daß der eigentliche Wesenskern des Menschen beim Anfang des irdischen Lebens wesentlich den Impuls der Gleichheit in sich trägt. Damit ist hingewiesen darauf, daß der Mensch nur richtig betrachtet wird, wenn er in seinem ganzen Lebenslauf betrachtet wird, wenn die zeitliche Entwickelung zwischen Geburt und Tod wirklich ins Auge gefaßt wird. Wir haben gerade hier in einer andern Beziehung hingewiesen darauf, wie Entwickelungsmotive sich verändern im Laufe des Lebens zwischen Geburt und Tod. Und in anderer Weise finden Sie hingewiesen auf diese Entwickelungsmotive in meinem Aufsatz, den ich in der letzten Nummer des «Reiches» geschrieben habe über das Ahrimanische und Luziferische im menschlichen Leben. Da ist darauf hingewiesen, wie das Luziferische in der ersten Lebenshälfte eine gewisse Rolle spielt, das Ahrimanische in der zweiten Lebenshälfte, wie diese Impulse des Ahriman und Luzifer durch das ganze Leben hindurch wirken, aber in verschiedener Art.

Neben der Idee der Gleichheit haben sich in der neueren Zeit andere Ideen, wie ich dazumal am Sonntag sagte, in tumultuarischer Weise vorgedrängt, gewissermaßen vorausnehmend die ruhige Entwickelung der Zukunft, zunächst in der Idee vorausnehmend dasjenige, was langsam in der Menschheitsentwickelung sich ausleben muß, wenn es zum Heile und nicht zum Unheil gereichen soll. Es haben sich andere Ideen neben die Idee der Gleichheit hingestellt; aber auch diese andern Ideen kann man hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Leben nur dann richtig verstehen und würdigen, wenn man sie in den Zeitenlauf des menschlichen physischen Daseins richtig hineinstellt.

Neben der Idee der Gleichheit tönt gewissermaßen durch die moderne Welt die Idee der Freiheit. Ich habe über die Idee der Freiheit vor einiger Zeit zu Ihnen in Anlehnung an die Neuauflage meiner «Philosophie der Freiheit» gesprochen. Wir sind also in der Lage, die ganze Wichtigkeit und Tragweite dieser Idee der Freiheit im Zusammenhang mit dem innersten Wesenskern des Menschen zu würdigen. Vielleicht wissen aber auch einige von Ihnen, daß öfters durch Fragen da und dort notwendig geworden ist, auf das ganz Besondere der Freiheitsauffassung hinzuweisen, wie sie in meiner «Philosophie der Freiheit» herrscht. Ich habe immer nötig gehabt, einen Gesichtspunkt mit Bezug auf die Freiheitsidee besonders hervorzuheben, nämlich den, daß die ganze neuere Zeit, die verschiedenen philosophischen Anschauungen über die Freiheit eigentlich den Fehler gemacht haben - wenn man es Fehler nennen will -, die Frage so zu stellen: Ist der Mensch frei oder unfrei? Kann man dem Menschen freien Willen zuschreiben oder darf man ihm nur zuschreiben, daß er in einer wie absoluten Naturnotwendigkeit drinnensteht und auch aus dieser Notwendigkeit heraus seine Handlungen, seine Willensentschlüsse vollführt? - Die Fragestellung ist unrichtig. Es gibt kein solches Entweder-Oder. Man kann nicht sagen, der Mensch ist entweder frei oder unfrei, sondern er ist begriffen in der Entwickelung von der Unfreiheit zur Freiheit. Und die Art und Weise, wie Sie aufgefaßt finden den Freiheitsimpuls in meiner «Philosophie der Freiheit», zeigt Ihnen, daß der Mensch immer freier und freier wird, daß er sich herauswindet aus der Notwendigkeit und immer mehr und mehr in ihm die Impulse wachsen, die ihm möglich machen, ein freies Wesen innerhalb der sonstigen Weltenordnung zu sein.

So hat denn der Impuls der Gleichheit seine Kulmination beim Geborenwerden - wenn auch nicht im Bewußtsein, da das noch nicht so entwickelt da schon leben kann -, dann fällt er ab. Der Impuls der Gleichheit hat also eine absteigende Entwickelung. Schematisch können wir das so zeichnen:

Bei der Geburt ist eine Kulmination der Gleichheitsidee da, und die Gleichheit bewegt sich in einer absteigenden Kurve. Umgekehrt ist es nun bei der Freiheitsidee. Die Freiheit bewegt sich in einer aufsteigenden Kurve und hat ihre Kulmination im Tode. Ich will damit nicht sagen, daß der Mensch, indem er durch die Pforte des Todes geht, den höchsten Gipfel eines freitätigen Wesens erreicht. Aber relativ, mit Bezug auf das Menschenleben entwickelt der Mensch den Impuls der Freiheit gegen den Moment des Todes hin immer mehr und mehr, und relativ hat er sich am meisten die Möglichkeit, ein freies Wesen zu sein, in dem Augenblick erworben, wo er durch des Todes Pforte in die geistige Welt eintritt. Während er also, indem er durch die Geburt in das physische Dasein eintritt, aus der geistigen Welt herausträgt die Gleichheit, die dann absteigt in der Entwickelung des physischen Lebenslaufes, entwickelt er gerade im physischen Lebenslaufe den Freiheitsimpuls und steigt mit dem ihm im physischen Lebenslauf erreichbaren Höchstmaß des Freiheitsimpulses durch die Pforte des Todes in die geistige Welt hinein.

Sie sehen daraus wiederum, wie einseitig oftmals das Menschenwesen betrachtet wird. Man bezieht nicht die Zeit in dieses Menschenwesen ein. Man redet vom Menschen im allgemeinen, in abstracto, weil man heute nicht geneigt ist, auf Wirklichkeiten einzugehen. Aber der Mensch ist nicht ein stehenbleibendes Wesen, er ist ein Wesen im Werden. Und je mehr er wird, je mehr er sich selbst in die Möglichkeit versetzt, zu werden, desto mehr erfüllt er gewissermaßen hier im physischen Lebenslaufe schon seine wirkliche Aufgabe. Diejenigen Menschen, die starr bleiben, die abgeneigt sind, eine Entwickelung durchzumachen, entwickeln wenig von dem, was eigentlich ihre irdische Mission ist. Was Sie gestern waren, sind Sie heute nicht mehr, und was Sie heute sind, werden Sie morgen nicht mehr sein. Es sind das allerdings kleine Nuancen. Wohl dem, bei dem es überhaupt Nuancen sind, denn das Stehenbleiben ist ahrimanisch. Nuancen sollten da sein. Es sollte wenigstens gewissermaßen im Leben des Menschen kein Tag vor sich gehen, ohne daß er wenigstens einen Gedanken in sich aufnimmt, der ein wenig sein Wesen ändert; der ein wenig ihn in die Möglichkeit versetzt, ein werdendes Wesen, nicht bloß ein seiendes Wesen zu sein.

Und so kann man den Menschen wirklich nur betrachten seiner eigentlichen Natur nach, wenn man nun nicht sagt im absoluten Sinn - Der Mensch hat in der Welt die Prätention auf Freiheit, Gleichheit -, sondern wenn man weiß, wie der Impuls der Gleichheit seine Kulmination erlangt im Lebensbeginn, wie der Impuls der Freiheit seine Kulmination erlangt am Lebensende. Man schaut erst dann in dieses Komplizierte des menschlichen Werdens auch im Lebenslauf hier auf der Erde hinein, wenn man solche Dinge in Betracht zieht, wenn man nicht abstrakt einfach hinsieht auf den ganzen Menschen und sagt: Er hat Anspruch, verwirklicht zu sehen in der sozialen Struktur Freiheit, Gleichheit und so weiter. - Das sind die Dinge, die durch Geisteswissenschaft wiederum dem menschlichen Gemüt nahekommen müssen, die außer acht gelassen worden sind von der nach Abstraktion und dadurch nach Materialismus hinstrebenden neueren Entwickelung.

Nun der dritte der Impulse: die Brüderlichkeit. Ihr ist eigen, daß sie die Kulmination in einem gewissen Sinne in der Mitte des Lebens hat. Ihre Kurve steigt an (siehe Zeichnung Seite 44) und fällt wiederum. Man kann allerdings dafür die Sache nur so aussprechen, daß man sagt: In der Mitte des Lebens, wenn der Mensch in seinem labilsten, das heißt schwankenden Zustand ist mit Bezug auf das Verhältnis des Seelischen zum Leiblichen, da hat der Mensch die stärkste Veranlagung, die Brüderlichkeit zu entwickeln. Er entwickelt sie nicht immer, aber er hat Veranlagung dazu. Es sind sozusagen für die Entwickelung der Brüderlichkeit die stärksten Vorbedingungen gegeben in der Lebensmitte.

So verteilen sich diese drei Impulse über das ganze menschliche Leben hin. In der Zeit, der wir entgegenleben, wird es notwendig für das Verständnis des Menschen und dann selbstverständlich auch für die sogenannte Selbsterkenntnis des Menschen, daß so etwas berücksichtigt werde. Man wird nicht zu richtigen Ideen über das Zusammenleben der Menschen kommen können, wenn man nicht wissen wird, wie sich die Impulse auf den Lebenslauf des Menschen verteilen. Man wird gewissermaßen nicht konkret leben können, wenn man diese Erkenntnis sich nicht wird erwerben wollen; denn man wird nicht wissen, wie konkret ein junger Mensch zu einem alten, ein älterer zu einem in mittleren Lebensjahren stehenden Menschen steht, wenn man nicht die besondere Konfiguration dieser inneren Impulse des menschlichen Wesens ins Auge faßt.

Fassen Sie aber das, was wir jetzt auseinandergesetzt haben, zusammen mit Betrachtungen, die wir früher hier angestellt haben über das allmähliche Jüngerwerden des ganzen Menschengeschlechtes. Erinnern Sie sich, wie ich auseinandergesetzt habe, daß die eigentümliche Abhängigkeit, welche der Mensch vom Körperlichen mit Bezug auf die seelische Entwickelung heute nur in seinen allerjüngsten Lebensjahren hat, gefühlt wurde, erlebt wurde in alten Zeiten - wir sprechen jetzt nur von nachatlantischen Zeiten - bis ins hohe Alter hinauf. Bis in die Fünfzigerjahre hinauf war der Mensch, sagte ich, in der urindischen Kultur so abhängig von seiner physischen, sogenannten physischen Entwickelung, wie er es heute nur in den jüngsten Jahren ist. Der Mensch ist in den ersten Lebensjahren abhängig von seiner physischen Entwickelung. Wir wissen, was für einen Einschnitt in der physischen Entwickelung der Zahnwechsel bildet, dann wiederum die Geschlechtsreife und so weiter. In den ersten Entwickelungsjahren sehen wir einen deutlichen Parallelismus zwischen seelischer und körperlicher Entwickelung. Das hört dann auf, das schwindet dann. Und ich habe darauf aufmerksam gemacht, wie das in älteren Kulturepochen der nachatlantischen Zeit nicht der Fall war. Jene Möglichkeit, zu naturgegebener Weisheit zu kommen einfach dadurch, daß man Mensch war, zu jener hohen Weisheit zu kommen, die man verehrte bei den alten Indern, die man noch verehren konnte bei den alten Persern und so weiter, jene Möglichkeit war dadurch gegeben, daß die Sache nicht so war wie jetzt, wo der Mensch in den Zwanzigerjahren ein fertiges Wesen wird, wo er nicht mehr abhängig bleibt von seiner physischen Organisation. Die physische Organisation gibt ihm dann nichts mehr. Das war nicht der Fall in alten Zeiten, sagte ich. Da gab die physische Organisation selbst die Weisheit den Menschen in die Seelen herein bis in die Fünfzigerjahre hinauf. Da war man in der zweiten Lebenshälfte auch ohne besondere okkulte Entwickelung in die Möglichkeit versetzt, auf elementare Art aus der körperlichen Entwickelung die Kräfte herauszusaugen, um zu einer gewissen Weisheit und Willensentwickelung zu kommen. Ich habe Sie aufmerksam gemacht, was das bedeutete für die alten indischen oder für die persischen Zeiten, selbst noch für die ägyptisch-chaldäischen Zeiten, wo dann, wenn man jung war, ein Knabe oder Mädchen oder Jüngling oder Jungfrau war, man hingewiesen werden konnte darauf: Wenn du alt wirst, hast du zu erwarten, daß einfach durch das Altwerden hereinbricht in dein Menschenleben dasjenige, was dir beschert ist dadurch, daß du eben eine Entwickelung durchmachst bis zum Tode hin. - Auch das war gegeben, daß man mit Ehrfurcht zum Alter hinaufsah, weil man sich sagte: Es wirkt mit dem Alter etwas herein in das Leben, was man noch nicht wissen kann, nicht wollen kann, wenn man noch ein junger Mensch ist. - Das gab dem ganzen sozialen Leben eine gewisse Struktur, die eigentlich erst aufhörte, als das während der griechisch-lateinischen Zeit zurückging bis in die mittleren Lebensjahre des Menschen. Bis in die Fünfzigerjahre war in der urindischen Kultur der Mensch entwickelungsfähig. Dann verjüngte sich der Mensch, also ging das Alter des Menschengeschlechtes, das heißt, diese Entwickelungsfähigkeit zurück bis zum Ende der Vierzigerjahre während der urpersischen Zeit, und nur noch zwischen dem fünfunddreißigsten bis zweiundvierzigsten Jahre wirkte sie während der ägyptisch- chaldäischen Zeit. Während der griechisch-lateinischen Zeit war der Mensch nur entwickelungsfähig zwischen dem achtundzwanzigsten und fünfunddreißigsten Jahre. In der Zeit, als das Mysterium von Golgatha geschah, war der Mensch entwickelungsfähig eben bis zum dreiunddreißigsten Jahre. Das ist das Wunderbare, das man in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit entdeckt: daß das Alter des durch den Tod auf Golgatha gehenden Christus Jesus zusammenfällt mit jenem Alter, bis zu dem die Menschheit dazumal zurückgegangen war. Und dann haben wir noch darauf hingewiesen, wie die Menschheit immer jünger und jünger wird, das heißt, bis zu einer immer geringeren Anzahl von Jahren entwickelungsfähig bleibt, wie es etwas Besonderes bedeutet, wenn der Mensch heute gerade im charakteristischen Jahre, in dem die Menschheit heute steht - im siebenundzwanzigsten Jahre sagte ich Ihnen -, eintritt in das öffentliche Leben und nichts anderes mitbekommen hat als dasjenige, was von außen bis zum siebenundzwanzigsten Jahre aufgenommen wurde. Ich führte an, wie Lloyd George gerade in dieser Beziehung der repräsentative Mensch unserer Zeit ist, weil er mit siebenundzwanzig Jahren in das öffentliche Leben eingetreten ist. Ungeheuer vieles folgt daraus. Sie können das in der Biographie von Lloyd George nachlesen. Diese Dinge machen aber möglich, die Verhältnisse der Welt von innen heraus zu durchschauen.

Nun, was ist Ihnen aber die Hauptsache, wenn Sie diesen Gesichtspunkt, den wir da für das Immer-Jüngerwerden des Menschengeschlechtes ins Auge gefaßt haben, verbinden mit den Gesichtspunkten, die wir gerade in diesen Tagen im Zusammenhang mit dem Weihnachtsgedanken uns vor die Seele geführt haben? Das ist das Charakteristische für unsere Gegenwartsentwickelung nach dem Mysterium von Golgatha, daß wir eigentlich durch das, was dem Menschen von Natur zugeteilt ist, aus unserem Organismus heraus nichts gewinnen können von den Dreißigerjahren an. Würde nicht das Mysterium von Golgatha eingetreten sein, wir würden gewissermaßen von unseren Dreißigerjahren an hier auf der Erde herumgehen und würden uns dann sagen: Eigentlich leben wir ja nur richtig bis so zum zweiunddreißigsten, dreiunddreißigsten Jahre höchstens. Da gibt uns unser Organismus die Möglichkeit des Lebens. Dann könnten wir ebensogut sterben. Denn durch den Naturlauf, durch die elementarischen Naturereignisse können wir nichts mehr durch die Impulse unseres Organismus für unsere seelische Entwickelung gewinnen. - Das würden wir sagen müssen, wenn das Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre. Voll müßte die Erde sein, wenn dieses Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre, von den Klagen der Menschen, die dahingingen, daß die Menschen sagten: Was habe ich eigentlich von meinem Leben vom dreiunddreißigsten Lebensjahre an! Bis dahin ist es möglich, daß mir mein Organismus etwas gibt. Von da ab könnte ich ebensogut tot sein, ich gehe eigentlich als ein lebendiger Leichnam hier auf der Erde herum. - Das würden viele Menschen empfinden, daß sie wie ein lebendiger Leichnam auf der Erde herumgehen würden, wenn dieses Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre.

Aber dieses Mysterium von Golgatha soll eben auch noch fruchtbar gemacht werden. Wir sollen nicht bloß unbewußt, wie es für die Menschen der Fall ist, in uns den Impuls von Golgatha aufnehmen, sondern wir sollen ihn bewußt aufnehmen. Wir sollen bewußt ihn so aufnehmen, daß wir gewissermaßen durch den Impuls von Golgatha jugendfrisch bleiben bis in das Alter hinein. Und er kann uns gesund und jugendfrisch erhalten, wenn wir ihn in der richtigen Weise bewußt aufnehmen. Und wir werden uns dann auch dieses Erfrischenden des Mysteriums von Golgatha für unser Leben bewußt werden. Und das ist wichtig, meine lieben Freunde!

Sie sehen also, dieses Mysterium von Golgatha kann als etwas sehr, sehr Lebendiges innerhalb unseres irdischen Lebenslaufes aufgefaßt werden. Ich sagte vorhin, die Menschen sind am meisten veranlagt in der Lebensmitte, so um das dreiunddreißigste Jahr herum, für die Brüderlichkeit. Aber sie bilden nicht immer diese Brüderlichkeit aus. Hier haben Sie den Grund in dem, was ich eben gesagt habe. Diejenigen, die die Brüderlichkeit nicht ausbilden, bei denen es etwas mangelt an der Brüderlichkeit, die sind eben zu wenig durchchristet. Weil der Mensch gewissermaßen in der Lebensmitte erstirbt durch die Kräfte des Naturlaufes, kann er sowohl den Impuls, den Instinkt der Brüderlichkeit wie namentlich den Impuls der Freiheit, den die Menschen heute so wenig aufnehmen, nicht ordentlich entwickeln, wenn er nicht lebendig macht in sich Gedanken, die unmittelbar von dem Christus-Impuls herkommen. Daher ist der Christus-Impuls unmittelbar, indem wir zu ihm uns hinwenden, die Anfeuerung zur Brüderlichkeit. In dem Maße, in dem man empfindet die Notwendigkeit der Brüderlichkeit, durchchristet man sich. Aber der Mensch würde allein während des Restes der Erdenzeit - in künftigen Entwickelungen wird es anders sein - nicht dahin kommen, die ganze Stärke des Freiheitsimpulses zu entwickeln. Da tritt dasjenige in unsere Erdenentwickelung als Menschen ein, was beim Tode des Christus Jesus ausgeflossen ist und sich mit der Erdenentwickelung der Menschheit vereinigt hat. Daher ist Christus im wesentlichen auch der Führer der heutigen Menschheit zur Freiheit.

Wir werden in Christo frei, wenn wir den Christus-Impuls so verstehen, daß wir ganz darauf einzugehen wissen, daß der Christus eigentlich nicht älter werden konnte im physischen Leib, oder nicht länger leben konnte im physischen Leibe als bis zum dreiunddreißigsten Jahre hin. Nehmen wir hypothetisch an, er hätte länger gelebt, so würde er in einem physischen Menschenleibe in die Zeit hineingelebt haben, wo dieser physische Leib eigentlich nach der gegenwärtigen Erdenentwickelung zum Ersterben bestimmt ist. Da würde er die Ersterbekräfte gerade als der Christus aufgenommen haben. Wäre er vierzig Jahre alt geworden, so hätte er im Leibe erlebt die Ersterbekräfte. Die konnte er nicht erleben wollen. Er konnte nur dasjenige erleben wollen, was noch die erfrischenden Kräfte des Menschen sind. Bis dahin wirkt er, bis zum dreiunddreißigsten Jahre, bis zur Lebensmitte, regt als der Christus die Brüderlichkeit an, übergibt dann dasjenige, was in des Menschen Kraft liegen soll, indem er ausfließen läßt in die Entwickelung der Menschen den Geist, dem Heiligen Geiste. Durch diesen Heiligen Geist, diesen gesundenden Geist entwickelt sich der Mensch gegen sein Lebensende hin zur Freiheit. So gliedert sich der Christus-Impuls ein in dieses konkrete menschliche Leben.

Solch eine innerliche Durchdringung des Menschenwesens mit dem Christus-Prinzip, das ist es, was als ein neuer Weihnachtsgedanke aufgenommen werden muß vom Menschenwissen. Wissen muß man, wie der Mensch mit der Gleichheit aus der geistigen Welt herauskommt. Das ist etwas, was ihm mitgegeben wird, was gewissermaßen aus dem Vatergott ist. Dann kann aber die Kulmination der Brüderlichkeit in der richtigen Weise nur durch des Sohnes Hilfe und durch den mit dem Geist vereinigten Christus die Entwickelung zum Freiheitsimpuls gegen den Tod hin in die Menschheitsentwickelung eintreten.

Dieses Mitwirken des Christus-Impulses in der konkreten Menschheitsausgestaltung, das ist dasjenige, was von jetzt ab in das Bewußtsein der Seelen aufgenommen werden muß. Das allein wird richtig heilsam sein, wenn die Forderungen der Menschen immer drängender und brennender werden in bezug darauf, wie man gestalten soll die soziale Struktur.

Aber in dieser sozialen Struktur leben Kinder, junge, mittlere und alte Leute, und eine soziale Struktur, die alle umfaßt, wird man nur finden können, wenn man weiß, daß Mensch nicht einfach gleich Mensch ist. Das fünfjährige Kind ist Mensch, der zwanzigjährige Jüngling, die zwanzigjährige Jungfrau ist Mensch, der vierzigjährige Mensch ist Mensch, alles ist Mensch. Aber dieses chaotische Durcheinanderwerfen, das bringt es nicht zu einer solchen Erkenntnis des Menschen, wie sie notwendig ist, um die Forderungen der Zukunft, der Gegenwart auch, zu erfüllen. Das chaotische Durcheinanderwerfen bringt es höchstens dazu, daß man meint: Mensch ist Mensch, also muß er mit zwanzig Jahren ungefähr ins Parlament gewählt werden. - Diese Dinge sind zerstörend für die wirkliche soziale Struktur. Sie beruhen darauf, daß der Mensch in der Gegenwart nicht eintreten will in die Menschenbeobachtung und das daraus hervorgehende Menschheitsbewußtsein, welches den Menschen konkret so nimmt, wie er ist. Aber konkret genommen ist die Abstraktion Mensch, Mensch, Mensch, gar nicht vorhanden, sondern es ist immer ein konkreter Mensch eines bestimmten Lebensalters mit bestimmten Impulsen. Menschenerkenntnis muß erworben werden; aber sie muß erworben werden, wenn man die Entwickelung desjenigen, was als Wesenskern im Menschen von der Geburt bis zum Tode lebt, ins Auge faßt. Das ist etwas, was auftreten muß! Und man wird wahrscheinlich nur geneigt sein, solche Dinge aufzunehmen in das Menschheitsbewußtsein, wenn man wiederum in der Lage ist, Rückblicke auf die Menschheitsentwickelung zu machen.